Das Weib hat es nie gegeben

Marta Markovás Buch über Alice Rühle-Gerstels Leben verliert sich in einer Überfülle an Informationen und Details

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"La femme n'existe pas", erklärte Jacques Lacan im "Séminaire Livre XX. Encore" des Semesters 1972/73. Eine provokante These. Doch war er keineswegs der Erste, der sie aufstellte. Ganz neu war der Gedanke allerdings nicht. Bereits1843 hatte Kierkegaard in "Entweder - Oder" die Ansicht vertreten, dass "sehr viele Weiber im allgemeinen schlechthin nichts sind", und kurz nach Anbruch des 20.Jahrhunderts erklärte der berüchtigte Frauenfeind Otto Weininger in seinem als Dissertation auftretenden Pamphlet "Geschlecht und Charakter" kurz und bündig: "Das Weib ist nichts". Auch zwei dieser nichtexistierenden Wesen selbst waren Lacan um einige Jahrzehnte zuvor gekommen. Bereits im Jahre 1929 erklärten sie - im übrigen völlig unabhängig voneinander - ganz ähnliches. So behauptet der Titel eines Romans von Mela Hartwig, das Weib sei "ein Nichts". All das erscheint Lacans These zumindest verwandt. Fast schon abgeschrieben haben könnte er aber bei Alice Rühle-Gerstel, auch sie eine Literatin, die sich zudem als Journalistin und in der Psychoanalyse einen gewissen Namen machte. "Das 'Weib' hat es nie gegeben", konstatierte sie in ihrer Studie "Das Frauenproblem der Gegenwart", die 1972 unter dem Titel "Die Frau und der Kapitalismus" neu aufgelegt wurde.

Natürlich kann man den Vorwurf des Plagiats nicht ernsthaft gegen Lacan erheben, bilden doch ganz verschiedene Theoreme den jeweiligen Hintergrund für die so ähnlich klingenden Aussagen. Schließlich war Rühle-Gerstel eine Schülerin des Freud-Konkurrenten Alfred Adler und versuchte, dessen Individualpsychologie mit Marxens Gesellschafts- und Revolutionstheorie zu verbinden - was man von Lacan nicht eben behaupten kann. Zudem entwickelt Rühle-Gerstel ihre These vornehmlich in einem feministischen Kontext.

"Geschlechtsideologen aller Art wechseln miteinander ab im Zusammenhang mit den jeweiligen Wirklichkeiten", erläutert sie ihre These, denn der "Körperbau" verpflichte keineswegs zu einem "bestimmten Geschlechtscharakter". Daher glaube sie nicht an "die Existenz des 'Typisch-Weiblichen'". Oder kürzer und einprägsamer: "Das 'Weib' hat es nie gegeben." Dass die Negation des 'Typisch-Weiblichen' durchaus kein beiläufiger und schnell wieder verworfener Gedanke Rühle-Gerstels war, belegt einer ihrer Texte aus dem Jahre 1932, in dem sie noch einmal nachdrücklich bestreitet, "daß es ein Wesen der Frau 'an und für sich' gibt, eine Geschlechtsgestalt, die naturgegeben und ewig wäre". Eine Haltung, mit der sie sich in Einklang mit der "Anschauung der Adlerschen Schule" sieht, die "eine Art sozialistischen Feminismus" vertrete.

Gendertheoretisch geschulte FeministInnen des beginnenden 21. Jahrhunderts, die zum ersten Mal von Alice Rühle-Gerstel hören, werden vermutlich erfreut zur Kenntnis nehmen, dass ein bekanntes Diktum Simone de Beauvoirs und somit die These der (sozialen) Konstruktion von Geschlecht bereits in den 1920er Jahren vorformuliert worden war. Weniger erfreut dürften sie allerdings darüber sein, dass Rühle-Gerstel die Emanzipation der Frau - sie spricht lieber vom "Geschlechterkampf" - rigoros dem Klassenkampf unterordnete. "Jede soziale Wirklichkeit von heute heißt Klassenkampf", lautet das Fazit ihrer Gesellschaftsanalyse von 1930. Entsprechend appelliert sie an die Frauen, die "in die Front eintrete[n]", "den Geschlechterkampf (im weitesten Sinne!) aus dem Klassenkampf auszutilgen und Eure Weiblichkeit als Menschlichkeit zu bewahren".

Einige Jahre später sollte Rühle-Gerstel sich ganz vom Feminismus und der Frauenemanzipation abwenden. "[I]ch bin überhaupt dahinter gekommen, daß mein jahrzehntelang bekanntes Credo von der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der Geschlechter reine, gut gemeinte Ideologie war", vertraute sie ihrer Freundin Gina Kaus am 15.12.1937 in einem Brief an.

Vielen dürfte Rühle-Gerstels Leben und Werk auch heute noch so unbekannt sein, wie es wohl auch Lacan gewesen ist. Dass dieser Missstand nun zum besseren gewendet werden kann, ist der tschechischen Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Marta Marková zu verdanken, deren Buch über "[d]as Leben der Alice Rühle-Gerstel" kürzlich unter dem Titel "Auf ins Wunderland" erschienen ist. Ihm sind die obigen Zitate der der 1984 geborenen Protagonistin ihrer Arbeit entnommen.

Marková gliedert das intellektuelle Arbeitsleben Rühle-Gerstels in drei Phasen, die mit ihren jeweiligen Aufenthaltsorten verknüpft sind: die populärwissenschaftliche Periode in Deutschland, die journalistische in Prag und die literarische in Mexiko. Politisch verortet sie Rühle-Gerstel als sozialistische "Antikommunistin, Antistalinistin und Antitrotzkistin". Dies ist nicht unzutreffend. Auch nicht die Charakterisierung als Antitrotzkistin, obgleich Rühle-Gerstel während der späten 1930er-Jahre in Mexiko für den in der Nachbarschaft lebenden Trotzki Übersetzungen anfertigte. Die Nachbarschaft beider war allerdings kein Zufall, kannte Rühle-Gerstels Mann Otto den Gründer und früheren Oberbefehlshaber der Roten Armee doch schon seit 1907.

Rühle-Gerstels Lebensweg sei hier nur kurz umrissen. Als Mädchen und Jugendliche besuchte sie das Öffentliche Deutsche Mädchenlyzeum in Prag, das sie bereits im Alter von 15 Jahren wieder verließ. Sieben Jahre später holte sie das Abitur nach. Bald nach Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sie sich freiwillig als Krankenschwester. Später studierte sie Philosophie und promovierte im März 1921 mit einer Arbeit über "Friedrich Schlegel und Camfort" summa cum laude.

Kurz darauf lernte sie den fast 20 Jahre älteren Pädagogen Otto Rühle kennen, den sie im Sommer 1922 heiratete. Wie Marková schreibt, war er für die damals 28-jährige Alice Gerstel nicht nur "eine Vaterfigur", sondern als Sozialist auch "die Erfüllung ihres großbürgerlichen Wunschprotestes". Denn Rühle hatte nicht nur das "legendäre" Buch "Das proletarische Kind" verfasst, sondern 1914 gemeinsam mit Karl Liebknecht gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt, später zunächst den Spartakusbund und dann die Kommunistische Partei Deutschlands mitbegründet, aus der er aber schon nach wenigen Monaten "wegen seiner radikalen Haltung" ausgeschlossen wurde. Bald darauf rief er mit einigen Genossen die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands ins Leben, zu deren "Wortführer" er Marková zufolge avancierte. Nicht ganz stimmig beschreibt die Autorin Rühle zur Zeit seiner zweiten Heirat mit Alice Gerstel, als einen Mann, der "seinen Zeitgenossen immer schon um einen Schritt voraus" gewesen sei, sich dabei aber "veraltet, müde, lustlos" gefühlt habe.

Klüger als viele andere verließ das Ehepaar Deutschland schon einige Monate vor der Machtergreifung durch die Nazis. Beide waren nicht nur wegen ihrer linksradikalen Aktivitäten gefährdet. Rühle-Gerstel war es zudem als Jüdin. Dass sie schon als junge Frau aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten war, war für die Nazis bedeutungslos. Allerdings gibt es bezüglich Rühle-Gerstels religiösem Bekenntnis eine kleine Unstimmigkeit in Markovás Darstellung: So heißt es einmal, sie habe "als Studentin der Philosophie 'evangelisch' als ihr Religionsbekenntnis an[gegeben]"; an anderer Stelle jedoch, sie habe sich "als Studentin der Philosophie konfessionsfrei bekannt".

Nach einigen Umwegen und der Überwindung etlicher Hindernisse kamen zunächst Rühle und im Juli 1936 auch seine Frau als Exilanten im Mexikanischen Veracruz an, das sie nicht mehr verlassen sollten. Wenige Stunden nach Rühles überraschendem Tod 1943 stürzte sich seine Frau aus einem Fenster. Marková zufolge war sein Ableben aber nur "ein begleitendes Indiz, wohl der Auslöser, nicht aber die Ursache" für den Suizid Rühle-Gerstels. Allerdings versäumt Marková es, diese Vermutung plausibel zu begründen.

Zu den bekannten Zeitgenossen, die Rühle-Gerstels weiten Weg durch Europa und bis hin nach Südamerika kreuzten, zählen neben Alfred Adler, Gina Kaus und Trotzki etwa Manès Sperber, Frida Kahlo und die zu unrecht vor allem als Kafka-Freundin bekannte Milena Jesenská. Markovás Darstellung wird diesen Personen nicht immer ganz gerecht. Jesenská etwa tut sie kurzerhand als "leicht beeinflussbar" ab und legt sogar nahe, sie habe ihre Publikation "Ein Vater, der um Verzeihung bat" gar nicht selbst verfasst.

Nicht ohne Grund richtet Marková eines ihrer Hauptaugenmerke auf Rühle-Gerstels Arbeit als Autorin der von Willy Haas und Ernst Rowohlt gegründeten "Literarischen Welt", für die sie in den Jahren 1925 bis 1933 etwa 70 Beiträge verfasste. "Erst wenn man alle Artikel von Alice Rühle-Gerstel gelesen hat und mit denen der Zeit und Zeitgenossen vergleicht, kann man sehen, welchen Weg sie eingeschlagen und was gerade diese journalistische Mitarbeit für sie bedeutet hat", erklärt Marková. Denn "[n]irgendwo anders bekommt man einen so tiefen Einblick in die Persönlichkeit Alices, ihren Charakter, in das breite Spektrum ihrer großen humanistischen Bildung". Der Anhang enthält denn auch eine vollständige Bibliografie von Rühle-Gerstels Arbeiten für "Die literarische Welt". Etliche von ihnen werden ausführlich zitiert und komentiert, wobei die Zitierweise allerdings nicht immer ganz sauber ist. So kommt es schon mal vor, dass in einem längeren Zitat ganze Absätze des Originals ausgelassen werden, ohne dass Marková dies kenntlich gemacht hätte.

Nicht ganz so ausführlich behandelt Marková den später im mexikanischen Exil verfassten Roman ihrer Protagonistin "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit", der erst im Jahre 1984 in der Reihe "Verboten und Verbrannt / Exil" des S. Fischer Verlags erscheinen konnte.

Fast auf jeder Seite des vorliegenden Buches springt einem die ihm zugrunde liegende langjährige und gründliche Recherche-Arbeit förmlich ins Auge. So ist es ganz überflüssig, dass die Autorin immer wieder einmal auf sie hinweist und etwa betont, dass sich ihr die - im Übrigen völlig abseitige - "Geschichte von Nellys [d.i. die Mutter von Rühle-Gerstel] Grab" erst "[n]ach wochenlangem Recherchieren enthüllte".

Trotz allem Fleiß unterläuft Marková hier und da mal eine Ungenauigkeit oder ein Fehler. So war für Alexandra Kollontais "Liebe" durchaus nicht "wie ein Glas Wasser zu handhaben". Tatsächlich vergleicht die Kollontai - womöglich in diffamierender Absicht - zugeschriebene Glas-Wasser-Theorie nicht die Liebe, sondern den Sexualakt mit dem Genuss eines Glases Wasser. Belegen lässt sich diese Theorie in Kollontais Schriften allerdings nicht und sie wird ihren komplexen Ausführungen zum Thema (etwa in ihrer Schrift "Die neue Moral und die Arbeiterklasse") auch nicht gerecht. Die Quelle der Zuschreibung ist nicht ganz zweifelsfrei auszumachen, vermutlich geht sie auf Clara Zetkin zurück, die von einem Gespräch berichtete, in dem Lenin ihr gegenüber Kollontais Glas-Wasser-Theorie kritisiert habe.

Derlei Irrtümer sollte man der Autorin allerdings nicht weiter vorhalten, sind sie doch im Rahmen einer Arbeit wie der ihren nie ganz zu vermeiden. Störender ist viel eher, dass sich Marková immer wieder in Einzelheiten und Belanglosigkeiten verzettelt. Dass die frühe Familiengeschichte und die Werdegänge von Alice Gerstels Geschwister allzu ausufernd dargelegt werden, mag man ja noch hinnehmen. Auch, dass sich gelegentlich die Gewichtungen verschieben. So umfasst der Abschnitt "Als Studentin der k.k. Deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag" eine knappe Seite. Davon handeln ganze neun Zeilen von Rühle-Gerstel. Ansonsten wird die Geschichte der Institution von ihrem Gründungsjahr 1374 an umrissen. Dass die "Schülerinnenbibliothek" der von Alice Rühle besuchten Mädchen Schule "Ende des Schuljahres 1908 einen Stand von 1948 Werken mit 2090 Bänden" enthielt, während die "Lehrerbibliothek [...] 2082 Werke mit 3650 Bänden" umfasste, muss man nun aber wirklich ebenso wenig wissen, wie man den Umstand kennen muss, dass der jährlich im Eigenverlag der Schule veröffentlichte Jahresbericht "beim Torwart der Anstalt um den Preis von 4 Heller verkauft" wurde.

Offenbar hat Marková es aber einfach nicht über sich gebracht, all die Ergebnisse ihrer intensiven Recherchearbeit auf immer im Orkus ihrer Schreibtischschublade verschwinden zu lassen. Dies und die auftretende Redundanzen führen zu einer insgesamt doch recht ermüdenden Lektüre. Hinzu kommt, dass der alles andere als unterhaltsame Stil sowie zahlreiche sprachliche und grammatikalische Unebenheiten nicht gerade zu ihrer Erleichterung beitragen. Das Verdienst, das sich Marková mit der vorliegenden Biografie erworben hat, bleibt von der Kritik an den sprachlichen und anderen Schwächen ihres Buches zwar nicht gänzlich unberührt, hat aber dennoch Bestand.


Titelbild

Marta Markova: Auf ins Wunderland. Das Leben der Alice Rühle-Gerstel.
Studien Verlag, Innsbruck 2006.
400 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3706543281

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