Über Gedichte schreiben

In ihrem neuesten Band blickt Ruth Klüger durch die "Gemalte[n] Fensterscheiben" der Lyrik

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrik ist schwierig. In geradezu sträflicher Papierverschwendung werden wenige, dafür aber offenbar umso inhaltsschwerere Worte auf zumeist kleinformatigen Seiten zu Texten verdichtet, deren Sinn sich auch nach mehrmaligem Lesen häufig nicht wirklich erschließt. Kaum ein Wort, so scheint es, hat in einem Gedicht noch seine ,normale', alltägliche Bedeutung, und es wird wohl niemanden geben, der sich bei der Lektüre eines Gedichts nicht schon die Frage gestellt hat, was uns der Dichter (respektive die Dichterin) eigentlich sagen will. Oder schlimmer noch: Warum er oder sie es dann nicht einfach so sagt, dass man es auch verstehen kann? Unbestritten, das Potential, das Lesepublikum nachhaltig zu frustrieren und abzustoßen, ist bei keinem literarischen Genre so ausgeprägt wie bei der Lyrik. Deshalb bedarf wohl auch kein anderes Genre so sehr der Vermittlung. Der Aufgabe, als vermittelnde Instanz zwischen Gedichten und ihren Lesern zu fungieren, hat sich auch Ruth Klüger verschrieben, deren diesbezügliche Bemühungen nun unlängst in "Gemalte Fensterscheiben" versammelt wurden.

Konzeptionell ähnelt Klügers Buch dem Band "52 Ways of Looking at a Poem" (2002) ihrer (Vor-) Namens-Vetterin Ruth Padel; ebenso wie dieses Buch versammelt auch "Gemalte Fensterscheiben" miszellane Gedichtinterpretationen der Autorin, die - im Fall Klügers - erstmals in der Zeit zwischen 1994 und 2006 in der FAZ veröffentlicht wurden. In der Summe fügen sich die einzelnen Interpretationen zu einem in (teilweise etwas forciert) nonchalantem Parlando-Ton gehaltenen Streifzug durch die Geschichte der deutschen Lyrik, vom "Zweiten Merseburger Zauberspruch" über Goethes "Urworte. Orphisch" und Lasker-Schülers "Mein blaues Klavier" bis hin zu Robert Schindels "Nullsucht 15 (Stürzen die Wolken)". Dabei wird jeder der im Übrigen zumeist wohltuend unakademischen Interpretationen zunächst der Gedichttext vorangestellt, bevor Klüger dann auf jeweils zweieinhalb Seiten ihre häufig sehr persönliche Lesart desselben ausführt. Zu dieser Längenbeschränkung finden sich allerdings zwei Ausnahmen; die erste - durchaus überraschend - ist Hans Sahls Gedicht "Kinder baden in Flüssen", das Klüger weniger als bedeutenden Text denn als aussagekräftiges Zeitdokument liest. Sahls Vers "Es sind nicht immer die größten Dichter, die das letzte Wort haben" zitierend, demonstriert Klüger, wie gewinnbringend auch die Beschäftigung mit vermeintlich (oder tatsächlich) ,zweitrangiger' Lyrik sein kann. Die zweite Ausnahme hingegen erscheint - zumindest auf den ersten Blick - weitaus konventioneller: Doch obwohl Klüger die historische Bedeutung von Paul Celans "Todesfuge" deutlich herausstellt, plädiert sie dennoch dafür, sich auch diesem Gedicht als Gedicht durchaus kritisch zu nähern und es nicht nur "kniefällig" hinzunehmen.

Mögen einige von Klügers Aussagen, wie etwa "Dieses Gedicht trifft mich in die Magengrube. Oder ins Zwerchfell, jedenfalls dort, wo's einem den Atem verschlägt", auch manchen Analysepuristen zunächst echauffiert aufschrecken lassen, so dürfte es der Autorin insgesamt gerade durch ihre unorthodoxe Herangehensweise gelingen, all jenen, deren Begeisterungsfähigkeit für Lyrik durch das in Schulen und Proseminaren so gerne in extenso exerzierte ,Metrumklopfen' erstickt wurde, einen neuen Zugang zu Gedichten zu eröffnen. Damit soll allerdings keinesfalls suggeriert werden, Klüger gehe rein impulsiv-emotional vor; es sind - ganz im Gegenteil - inhaltlich fundierte Interpretationen, die die Autorin liefert, bei denen man zuweilen aber auch ganz en passant noch etwas Klatsch und Tratsch aus der Welt der Dichterinnen und Dichter vermittelt bekommt (dass etwa der Ehemann Catharina Regina von Greiffenbergs gleichzeitig der Halbbruder ihres Vaters war und ob dieser inzestuösen Verbindung ins Gefängnis musste, fesselt die Aufmerksamkeit weit mehr als Greiffenbergs dazugehöriges Gedicht).

Doch so eloquent Klüger in ihren Interpretationen auch sein mag, angesichts von Robert Gernhardts "Couplet von der Erblast" fehlen ihr die launigen Worte, und es ist vorerst Schluss mit lustig: Des spöttelnden Dichters böser Attacke auf feministisch-revisionistische (Kirchen-)Geschichtsschreibung versucht sich Klüger mit verkrampftem Ernst - und ungewohnt dröge - zu nähern. Ungeachtet der Erkenntnis, dass es keinen schlechteren Witz gibt, als den, den man erklärt bekommt, beginnt sie, Gernhardts "Couplet" als Spottgedicht auf rechthaberische Sprachgebärden (um-)zudeuten: "[...] Gernhardt geht es nicht um die Substanz, sondern um die Sprache, in der die Substanz abgehandelt wird". Für den offenbar unvorstellbaren Fall, dass es ihm unter Umständen doch um die feministische Substanz gegangen sein könnte (horribile dictu!), zaubert Klüger schnell noch eine verbale Moralkeule aus ihrem interpretatorischen Repertoire und macht nicht nur deutlich, auf welcher Seite ihre Sympathien liegen, sondern auch, wo die Sympathien der impliziten und politisch korrekten Leser- und Leserinnenschaft zu liegen haben: "Es gibt sicher Menschen auf beiden Seiten, die nicht wünschen, daß man sich über so ernste Dinge lustig macht. Feministinnen (wie mir) sind die ,postmodernen Frauengruppen' in der Kirche vermutlich sympathischer, als sie es dem Dichter Gernhardt sind, und wir wünschen ihnen Erfolg"; die postmodernen Frauengruppen wird's gefreut haben - den "Dichter Gernhardt" sicherlich auch.

Soweit der erste Teil des Bandes. Doch da ja bekanntlich eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, und rund 160 Seiten Gedichtbetrachtungen noch kein Buch ergeben, werden die Einzelinterpretationen durch vier längere Arbeiten Klügers über Lyrik ergänzt: "Mein Schiller", eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Lese- beziehungsweise Rezitationserlebnis Schiller'scher Lyrik, zwei Vorträge zu deutsch-jüdischen Dichterinnen, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden, und die Dankesrede zum Preis der Frankfurter Anthologie.

Den Auftakt zu "Mein Schiller" bildet Klügers Erinnerung an ihre Kindheit und ihre Großmutter: "In der eher ärmlichen Wohnung meiner Großmutter in der Czerningasse gab es eine Schiller-Ausgabe großen Formats, eine Prachtausgabe. Sie war schwer zu lesen für mich, die ich eben erst lesen gelernt hatte, und ich behandelte sie mit Ehrfurcht, stolz darauf, daß ich sie mir anschauen durfte." Wer nun jedoch meint, Klügers Ehrfurcht vor der Klassikerausgabe habe sich auch auf den Dichter übertragen, wird eines Besseren belehrt: Fernab von Thomas Manns glühendem Bekenntnis zur "Nänie", konzentriert sich Klüger auf Schillers Balladen und es fallen bald so unakademische und unschöne Adjektive wie "holprig", "lächerlich", ja sogar "unverzeihlich" und "wenig[...] tiefsinnig". Zugegeben, die von Klüger zitierten Verse aus "Der Gang nach dem Eisenhammer" (",Wer hebt das Aug' zu Kunigonden?' - / ,Nun ja, ich spreche von dem Blonden.'") zählen in der Tat wohl nicht gerade zu den Sternstunden der angeblich sonst so tiefsinnigen deutschen Lyrik, doch dass sie daneben auch noch Schillers Meriten als Dramatiker in Zweifel zieht, erscheint doch etwas zu arg und wenig objektiv. Doch um Objektivität oder gar literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse ist es Klüger hierbei auch gar nicht zu tun. ,Ihr' Schiller ist nämlich der, dessen Balladen für sie nicht aufgrund ihres (mehr oder minder großen) künstlerischen Gehalts interessant sind, sondern aufgrund ihrer ganz realen ,Nützlichkeit'. Konnte sich Klüger die Gedichte doch während der Appelle im Konzentrationslager aufsagen: "So wurden die Schillerschen Balladen meine Appellgedichte, mit denen ich stundenlang in der Sonne stehen konnte, weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab, und wenn einem eine Zeile nicht einfiel, so konnte man darüber nachgrübeln, bevor man an die eigene Schwäche dachte."

In den folgenden beiden Beiträgen beschäftigt sich die Autorin mit dem Leben und Werk von jeweils drei "Verfolgten Lyrikerinnen" (Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Gertrud Kolmar, sowie Rose Ausländer, Mascha Kaléko und Hilde Domin). Ihre Dankesrede "Über Lyrik reden" beschließt den Band.

"Gemalte Fensterscheiben" ist sicherlich ein Muss für alle Klüger-Afficionados; doch auch allen (potentiellen) Lyrikinteressierten - sofern sie nicht gerade überzeugte Bewunderer Schiller'scher Balladen sind - sei der Band anempfohlen. Sie werden darin sicherlich die eine oder andere Trouvaille entdecken.


Titelbild

Ruth Klüger: Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
252 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3892444900
ISBN-13: 9783892444909

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