Alltägliche Abgründe

In Richard Yates' Roman "Easter Parade" leiden die Figuren an ihrem tragischen Mittelmaß

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist, wusste Richard Yates nicht nur von Tolstoi, sondern musste es in seinem eigenen Leben erfahren. Doch schuf er sich mit vielen seiner Romanfiguren Leidensgenossen, Seelen- und Schicksalsverwandte, durch die sich die Unvergleichbarkeit des eigenen Unglücks wenigstens in einer Romanwelt zu relativieren schien. Denn viel Glück war dem 1926 in Yonkers im Bundesstaat New York geborenen und lange Zeit vergessenen Autor nicht beschieden. Als Yates 1992 gerade einmal - oder sollte man bei seinem Lebenswandel besser sagen: immerhin - sechsundsechzigjährig starb, war sein literarisches Werk nahezu vergessen, ohne dass es je übermäßige Beachtung gefunden hatte. Alles andere in Richard Yates Leben allerdings, die Alkoholexzesse und der Zigarettenkonsum, seine Wutaus- und Nervenzusammenbrüche, war von jenem kaum vorstellbaren Übermaß an Selbstzerstörung gekennzeichnet, das auch seine meist autobiografisch gefärbten Romanfiguren ausmacht.

Zusammen mit der Tatsache, dass auch der gut eine Generation ältere F. Scott Fitzgerald erst lange nach seinem Tod als der große Chronist des Jazz-Ages wiederentdeckt, gefeiert und kürzlich auch mit einer vorzüglichen fünfbändigen Neuausgabe seiner Romane im Diogenes-Verlag bedacht wurde, hat neben den ähnlich exzessiven Lebensläufen beider Autoren vor allem jene offensichtliche und verstörende Transformation eigener Schicksals- und Lebenserfahrungen in Literatur immer wieder und zu Recht Vergleiche provoziert.

Aber nicht nur der kunstvoll ins Medium der Literatur übertragene autobiografische Hintergrund zeichnet die Romane von Richard Yates aus. Hinter der Fassade amerikanischer Durchschnittsfamilien entlädt sich die ganze Tragik einer nie akzeptierten Mittelmäßigkeit, deren Überwindungsversuche die Protagonisten zwar nicht tiefer ins Mittelmaß, dafür aber in Sucht, Aggression und Ausweglosigkeit stürzen lassen. Die Beschreibung der Hauptfiguren ist dabei einem realistischen und ebenso klaren, messerscharfen und unerbittlichen Schreibstil verpflichtet und gerade darin Fitzgerald vergleichbar.

Nachdem in den USA vor allem erfolgreiche Autoren wie Richard Ford und Stewart O'Nan am Ende des letzten Jahrtausends die Wiederentdeckung von Yates eingeleitet und vorangetrieben haben, erschien zunächst die bis dahin vergriffene amerikanische Neuausgabe von Yates' vielleicht bestem, zum ersten Mal 1961 erschienenen Roman "Revolutionary Road" ("Zeiten des Aufruhrs"), der 2002 von Hans Wolf in einer Ausgabe der Deutschen Verlagsanstalt meisterhaft ins Deutsche übersetzt und vier Jahre später in die "Manesse Bibliothek der Weltliteratur" aufgenommen wurde.

Der nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung von Anette Grube vorliegende Roman "Easter Parade" schildert die unterschiedlichen Lebensentwürfe und -geschichten zweier Schwestern, die zum einen mit der Scheidung der Eltern - auch Yates war ein Scheidungskind mit einer ähnlichen monomanischen Mutter - denselben Ausgangs- und nach einigen Umwegen auch letztlich denselben Endpunkt haben. Schon im ersten Satz des Romans wird am Ausgang der Geschichte kein Zweifel gelassen: "Keine der Grimes-Schwestern sollte im Leben glücklich werden, und rückblickend schien es stets, daß die Probleme mit der Scheidung ihrer Eltern begonnen hatten."

Unfähig, sich gegen die egoistische und alles andere als fürsorgliche Mutter zur Wehr zu setzen, versuchen die beiden Schwestern Sarah und Emily zunächst jede auf ihre Weise, die traumatischen Erlebnisse als junge Frauen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen zu überwinden. Sarah sucht ihr Glück in einer frühen Ehe, Kindern und Haus und bemerkt erst spät, aber dafür umso schmerzhafter, dass sie mit einem Schläger und Säufer verheiratet ist.

Der Beweggrund für diese Hochzeit, ein eigentlich heruntergekommenes Haus ihres Mannes auf Long Island, das die Mutter konsequent "Anwesen" zu nennen pflegt, entpuppt sich als ebenso wenig trostreich, wie die völlig verblendete und künstliche Erzeugung von Upper-class-Flair, die Sarahs Mutter betreibt - ein Lügengerüst, unter dem sie am Ende elendiglich unter Alkohol und in Müll zusammenbricht.

Emily dagegen, die eigentliche Hauptfigur des Romans, erhält ein Stipendium an einem angesehenen College und strebt eine akademische Karriere an. In ihrem Privatleben erlebt sie eine sexuelle Affäre nach der anderen, bis sie sich durch ihre Bindungsunfähigkeit völlig in einer leeren Einsamkeit wiederfindet und ihr auch der berufliche Erfolg verwehrt bleibt.

Es mag bisweilen so scheinen, als liege dem Roman ein deterministisches Weltbild zugrunde, das seinen Figuren den Ausbruch aus ihrem jeweiligen Milieu und ihren familiären Veranlagungen unmöglich macht - zumal wir seit Marcel Proust wissen, dass gerade die Ketten uns am stärksten binden, die wir meinen, zerbrochen zu haben. Das stimmt zu einem gewissen Teil. Aber Yates geht es nie alleine darum, die Ergebnisse traumatischer und richtungsweisender Ereignisse und Erlebnisse zu zeigen, sondern vielmehr deren Entwicklung und Gabelungen vor Augen zu führen. Dass die Protagonisten oftmals halbbewusst dabei eine Möglichkeit versäumen, ihrem Leben eine positive Wendung zu geben, was etwa auch auf Emily zutrifft, macht sie fast schon zu tragischen Figuren, die klassischerweise nie ganz schuldig oder unschuldig sind, sondern eben nur jenen in der aristotelischen Tragödientheorie als "harmatia" bezeichneten "Fehler" haben.

Gleichwohl sind Gesamtanlage des Romans und die Figurenzeichnung bei weitem nicht so komplex und mehrfach dimensioniert ausgefallen wie in Yates meisterhaftem Erstling "Zeiten des Aufruhrs" (Deutsch 2002 und 2006). Dennoch darf man die literarhistorische Bedeutung dieses Doppelporträts zweier Schwestern nicht unterschätzen. Nicht nur, weil Yates mit Emily eine Figur geschaffen hat, in der sich eine junge Frau in den fünfziger Jahren selbst zur Intellektuellen erziehen will und von hochgesteckten - auch emanzipatorischen - Ambitionen getrieben wird.

Der Roman stellt gewissermaßen auch das Gegenstück zu den "Rabbit-Romanen" des fast gleichaltrigen John Updike dar. In Updikes Romanen und der Geschichte seines Helden Harry (Rabbit) Angstrom, von denen der erste 1960 im Amerikanischen Original, die deutsche Übersetzung ("Hasenherz") 1976 und damit im selben Jahr wie "Easter Parade" erschienen ist, verdichten sich die materiellen und sozialen Entwicklungen der amerikanischen Mittelschicht seit den fünfziger Jahren. Dagegen gewährt Yates' Roman vor allem einen Blick in das Innenleben von Vertretern aus der 'Mitte der Gesellschaft', die, wie Emily in ihrem letzten Satz, nur ihrer Ratlosigkeit und völligen Überforderung mit diesem Leben Ausdruck verleihen können: "Ich bin fast fünfzig Jahre alt, und ich habe noch nie im Leben irgend etwas verstanden."


Titelbild

Richard Yates: Easter Parade. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anette Grube.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
304 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042613

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