Das andere Washington

"Im Labyrinth der Stadt": Die Erzählungen von Edward P. Jones beschreiben Lebenssituationen schwarzer Amerikaner

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marie lernte von ihrer Mutter, dass "die da oben" - der Präsident, die Regierung und das Bundesgericht in Washington - alles in Ordnung bringen. Sie dachte, wenn das so sei, müsse dort Gott wohnen. Also zog sie in die amerikanische Hauptstadt. Nun, als 86-Jährige, wird sie aufs Sozialamt zitiert. Nach langer Warterei schickt man sie wieder nach Hause. Es wird ein neuer Termin gemacht. Wieder wird Marie abgespeist. Da rastet sie aus, schlägt der Frau am Empfang mitten ins Gesicht - und hat am Ende Schuldgefühle: "So bist du nicht erzogen worden", denkt sie sich. Ihre Hautfarbe: schwarz.

Rassismus, alltägliche Demütigungen, Identitätskonflikte: Marie ist die Hauptfigur in der gleichnamigen Erzählung von Edward P. Jones. Die Story ist die letzte und vielleicht eindrucksvollste der 14 Geschichten in Jones' Band "Im Labyrinth der Stadt".

Jenseits der Postkartenkulisse

Das Buch wurde 1992 in den USA unter dem Titel "Lost in the City" veröffentlicht und liegt jetzt auf Deutsch vor. Auf dem Weltmarkt bekannt wurde Jones im Jahr 2004: Damals erhielt er den Pulitzer-Preis für seinen Debutroman "The Known World", in dem er das Leben eines schwarzen Sklavenhalters erzählt. "Die bekannte Welt" erschien 2005 in Deutschland. Die lange vor dem Roman entstandenen Stories wurden mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Sie spielen (vermutlich) in den 50er- bis 80er-Jahren und bieten hervorragende Einblicke in die Lebensumstände von Afroamerikanern in der amerikanischen Hauptstadt.

Das war das Ziel von Jones: "the other city", die andere Seite der Stadt, darzustellen, wie der 1951 geborene Autor der "Washington Post" erklärte. In Washington D.C. präsidiert nicht nur der mächtigste Mann der Welt vor einer glänzenden Postkartenkulisse mit zahlreichen historischen Bauten, sondern hier leben mehr als eine halbe Million Menschen, von denen die meisten Afroamerikaner sind.

Brüchige Identität

Die Erzählungen drehen sich darum, was es bedeutet schwarz zu sein. Da ist beispielsweise die Analphabetin, die ihren Sohn in der Schule unterbringen möchte und darauf bestehen muss, dass man ihr beim Ausfüllen des Einschulungsantrags hilft ("Der erste Tag"). Da ist der Junge, der entlassen wurde und auf dem Heimweg von einem Polizisten gezwungen wird, mehrmals die Straßen auf und abzulaufen, weil er die rote Ampel ignorierte ("Der Laden"). Oder die eigenwillige Schülerin Cassandra, dessen Freundin Rhonda erschossen wird ("Der Abend, an dem Rhonda Ferguson umgebracht wurde").

Spürbar wird der soziale Druck, als Schwarzer gegen Diskriminierungen ankämpfen zu müssen. Nicht selten äußert sich die Erfolglosigkeit dieses Kampfes in Aggression und Wut, beispielsweise gegen schnoddrig daherkommende Sekretärinnen (siehe "Marie") oder gegen das eigene Milieu, wie in dem Familiendrama "Der Sonntag nach Muttertag", in dem ein Mann seine Frau scheinbar grundlos ersticht. Soziale Bindungen stehen auf dem Spiel, wenn man nicht mehr weiß, wohin man gehört. "Dein Problem ist - du wohnst da oben bei den Weißen. Bei den Geistermenschen", lautet der Vorwurf aus der Gemeinschaft der Schwarzen.

Wenn Jones all dies erzählt, hebt er nie den moralischen Zeigefinger, sondern schlägt einen nüchternen, geradezu lakonischen Ton ein, der das Erzählte für sich sprechen lässt. Dennoch vermitteln die Stories ein feines Gespür des Autors für die Brüchigkeit des amerikanischen Lebensstils und für die Charaktere, die daran leiden.

Abstraktes Gehäuse

Neben der Identitätsfrage bildet die Stadt Washington einen weiteren Rahmen der Erzählungen. Jones (der selbst in der Metropole am Potomac aufwuchs) hat sich nach eigenem Bekunden an James Joyce orientiert - einem Vorbild also, das kaum erreicht ist. Das Städtische in den Erzählungen erschöpft sich häufig in dem Aufzählen von Straßennamen. Doch es gibt Ausnahmen: In der Titel-Erzählung "Im Labyrinth der Stadt" lässt Jones die Geschäftsfrau Lydia ziellos mit dem Taxi umherirren, nachdem sie vom Tod ihrer Mutter erfahren hat. "Fahren Sie einfach drauf los, verlieren Sie sich im Labyrinth der Stadt." Hier verbindet Jones auf wenigen Seiten Trauer und Verwirrung mit der Unübersichtlichkeit des Straßendschungels.

In der Abschlusserzählung "Marie" setzt Jones die Bürokratie als abstraktes, unpersönliches Gehäuse in Szene. Das Sozialamt verschickt Briefe "in einer fremden Sprache", unterschrieben von einem Mitarbeiter mit dem Allerweltsnamen "Mr. Smith", der jedoch schon längst verstorben ist. Der Staat bekommt geisterhafte Züge und wirkt irgendwie unheimlich. Hier stellen sich Fragen jenseits von Schwarz und Weiß.


Titelbild

Edward P. Jones: Im Labyrinth der Stadt. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel und Hans-Christian Oeser.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3455036988

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