Sehnsucht nach Mehr

Madeleine Thiens Roman "Jene Suche nach Gewissheit" besticht durch sprachliche Eleganz und gedankliche Tiefe

Von Kirsten SandrockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Sandrock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gelingt nicht vielen Autoren, von einer "Sprache, in der deine Mutter dich liebte" zu schreiben, ohne anschließend vom trivialitätsmüden Leser geächtet zu werden. Madeleine Thien aber vollbringt dieses Kunststück einwandfrei. Die junge Kanadierin besticht in ihrem Roman "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" durch eine sprachliche Hingabe, die weder seicht noch geistlos wirkt, sondern im Gegenteil die gedankliche Tiefe ihres literarischen Debüts unterstreicht.

Der im Original als "Certainty" erschienene Roman erzählt von der Suche nach menschlichen Grundwahrheiten im Kontext der persönlichen Trauerarbeit. Die Hinterbliebenen einer plötzlich verstorbenen Rundfunkjournalistin werden jäh ihrer bisherigen Wirklichkeit beraubt und müssen sich in den scheinbar sinnlos gewordenen Koordinaten der Welt neu orientieren. Sie leben in einer "Zeit, die die Zukunft hätte gewesen sein sollen" und in einer "Welt, die [...] jeder Farbe beraubt" ist in Anbetracht des Verlustes und den daraus resultierenden Ängsten vor der eigenen Bedeutungslosigkeit.

Dabei gelingt es Thien mit ebenso viel Tiefgang wie Einfühlungsvermögen, die von Irrationalität und Subjektivität geprägten Gefühle ihrer Charaktere zu vermitteln. Ihre Sprache öffnet die bisweilen an Wahnsinn grenzende Innenwelt der Trauernden und ermöglicht Zugang zu einer Art von Seelenlandschaft, die sowohl in der Realität als auch in der Fiktion anderweitig oft verschlossen bleibt.

Mit beeindruckender Klarheit schildert die Autorin beispielsweise die Verzweiflung des langjährigen Lebensgefährten, dessen Trauer bis hin zum Gefühl der eigenen Lebensunfähigkeit führt: "Nachts stürzt die Lawine der Möglichkeiten schwer auf seinen Körper und er sucht so fieberhaft nach Auswegen, dass er nicht atmen, nicht weinen kann." Es ist kennzeichnend für Thiens Affinitäten zum nordamerikanischen Pragmatismus, dass die Figuren sich letztlich nicht der Lebensunfähigkeit ergeben, sondern sich - nach zahlreichen philosophischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen - bewusst gegen die Kapitulation vor der eigenen Ohnmacht entscheiden. Dank der inhaltlichen Tiefe des Werkes scheint es deshalb keinesfalls klischeehaft, wenn der Hinterbliebene der Fratzenhaftigkeit des Schicksals mit Menschlichkeit und Empathie entgegentritt und in seiner Rolle als Arzt zum Hoffnungsträger für einen jungen HIV-Infizierten und dessen Schwester avanciert.

Abgesehen vom thematischem Tiefsinn überzeugt "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" vor allem durch sprachliche Eleganz sowie die geschmeidige Verkettung von sich gegenseitig ergänzenden Handlungssträngen, Zeitebenen und Perspektiven. Geschickt werden Analogien zwischen der Suche nach Wahrheit und dem Gebiet der Kryptografie erstellt, das kodierte Tagebuch eines Kriegsoffiziers dient als Symbol für das Dechiffrieren von menschlichen Geheimnissen und ein nach den Trauerritualen der kanadischen Inuit gebautes Steinmonument verdeutlicht gleichzeitig die Prozesshaftigkeit und Performativität des menschlichen Gedächtnisses: "Die Vergangenheit ist nicht statisch, unsere Erinnerungen verzerren und verbiegen sich, wir wandeln uns mit jedem Schritt, den wir in die Zukunft gehen."

Schicht für Schicht, jedoch oftmals fragmentarisch durchdringt der Roman die Vergangenheit der einzelnen Figuren. Das Leben der verstorbenen Journalistin und deren Wunsch nach Aufklärung in Familie und Beruf wird ebenso aufgearbeitet wie die Vita der hinterbliebenen Eltern, deren Auseinandersetzung mit dem Tod der Tochter vor allem zurück in die eigene Vergangenheit führt. Gemäß der Prämisse, dass die Versöhnung mit dem Leben über die Versöhnung mit sich selbst führt, spinnt der Roman ein filigranes Netz aus Erinnerungen, das die Geschichte des in Kanada lebenden Einwandererehepaars aus Südostasien in aller Bruchstückartigkeit des menschlichen Daseins vorführt.

Wie ein Palimpsest erschließt sich beispielsweise die Vergangenheit des Vaters, dessen Betrachtungen von Armut und Krieg, Fremdherrschaft und Flucht berichten. Die Unbeständigkeit seines Lebens wird narrativ durch eine a-chronologische Erzählweise und alternierende Schauplätze forciert. Das Reiseroulette rotiert fleißig zwischen dem zeitgenössischen Kanada und dem vom Zweiten Weltkrieg erschütterten Britisch-Nordborneo - heute Malaysia - zwischen Jakarta, Australien und Hongkong sowie den Niederlanden, wobei einzelne Aspekte der Geschichte geschickt verborgen bleiben, um von den Lesern schließlich selbst erschlossen zu werden.

So wartet am Ende von Thiens literarischer Suche zwar nicht die von den Charakteren ersehnte Gewissheit oder die Enträtselung aller gesponnenen Geheimnisse. Wohl aber wartet die durch Vernunft und Gefühl abgeleitete "Hoffnung, dass unser Wissen uns zu guter Letzt erlösen wird, dass wir etwas finden, das bleibt, auch noch im unendlichen, ungewissen Jenseits." Ein etwas anderer nordamerikanischer Pragmatismus eben - hervorgebracht mit solch einer Ästhetik, die unabhängig von eigenen Überzeugungen erwartungsvoll auf die weitere Karriere dieser Jungschriftstellerin blicken lässt.


Titelbild

Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit. Roman.
Übersetzt aus dem Kanadischen Englisch von Almuth Carstens.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
304 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872544

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch