Ekstase des Verstehens

Ivan Nagel präsentiert in "Drama und Theater" die Bretter, die seine Welt bedeuteten

Von Sandra LindnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Lindner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn heute von Laiendarstellern aufgeführte Konzept-Stücke ohne feste Textgrundlage Furore machen, Filme wie "Gegen die Wand" und "Mulholland Drive" für die Bühne adaptiert werden und kaum eine Inszenierung ohne den Einsatz von Digitalkameras auskommt, sind wir weit entfernt von der Ästhetik der legendären Inszenierungen der ausklingenden Sechziger und beginnenden Siebziger Jahre. Diese Theater-Ära mit ihren Protagonisten wie Peter Stein, Peter Zadek und Klaus Michael Grüber stellt für viele, und vor allem für jene, die sie erlebt und mitgestaltet haben, die Glanzzeit des jüngeren deutschen Theaters dar.

Ivan Nagel ist einer, der mitgestaltete, und er bringt zu seinem 75. Geburtstag ein neues Buch auf den Markt. "Drama und Theater" heißt der schön gestaltete schmale Band, ein Titel so schlicht wie allumfassend. Stutzig macht zuerst das kursiv gesetzte "und", dann der Untertitel "Von Shakespeare bis Jelinek". Fängt Drama hier bei Shakespeare an und hört Theater bei Jelinek auf? Und werden hier zwei verschiedene Künste betrachtet oder die beiden Hälften eines Ganzen?

Das Inhaltsverzeichnis des Buches deutet auf einen Streifzug hin. Zur Einführung etwas Theatergeschichte, dann nähert sich Nagel essayistisch und exemplarisch Dramatikern (Tschechow, Shakespeare, Wilde, Müller, Jelinek), Darstellern (Klaus Steiger, Ulrich Wildgruber, Louis Jouvet), Inszenierungen ("Torquato Tasso" von Peter Stein, "Emilia Galotti" von Fritz Kortner) und Inszenierenden (Klaus Michael Grüber, Pina Bausch). Ausführlich analysiert Nagel das zu den Problemstücken Shakespeares gezählte "Troilus und Cressida" und das Römerdrama "Antonius und Cleopatra", die beide vergleichsweise selten inszeniert wurden. Hier spricht der Dramaturg Nagel, eigenwillig und leidenschaftlich, über Sport und Schlacht, Koitus und Totschlag und verblüffende Feinheiten der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit Shakespeare'scher Helden. Hier bestätigt sich eindruckvoll, was Sigrid Löffler bereits für das gesamte Buch formulierte: der Erkenntnisgewinn für den Leser sei außerordentlich.

Der Theatermann Ivan Nagel feiert mit diesem Buch sein ureigenes Resümee. Er schaut mit nostalgischem Blick vor allem auf die Hoch-Zeit des deutschen Regietheaters, spricht von Inszenierungswundern aus den Jahren 1969-75. Dabei bleibt das heutige Bühnengeschehen fast völlig außen vor. Zudem ist die Geschichte, die Nagel schreibt, eine überwiegend männliche. Elfriede Jelinek und Pina Bausch muten wie Quotenfrauen an - das Kapitel über Pina Bauschs Tanztheater ist dabei grade mal zwei Seiten lang -, und selbst große Damen ihrer Zunft wie Jutta Lampe oder Edith Clever tauchen nur im Kontext auf. Als Kompendium eignet sich "Drama und Theater" schlecht, zu persönlich ist die Auswahl des Autors, zu egoistisch setzt er Akzente und behandelt einige Themen sehr ausführlich, andere eher en passant. Ivan Nagel lässt seine Sternstunden Revue passieren, ein Luxus, den er sich als Hochverehrter, Preisgekrönter und Prominenter leisten kann.

Wie verhalten sich Drama und Theater zueinander? Ivan Nagel fragt am Anfang: "Ist eine theatrale Aufführung wesentlich (oder lediglich): die Interpretation eines Textes? Oder ist ein dramatischer Text wesentlich (oder lediglich): der Vorschlag für eine Aufführung?" Zur Illustration dieser Kernfrage zieht Nagel Tschechow und Stanislawski heran. Tschechow schrieb über den "Kirschgarten": "Ich habe kein Drama geschrieben, sondern eine Komödie, stellenweise sogar eine Farce." Stanislawski dagegen: "Er konnte sich bis zum Tode nicht damit abfinden, dass wir im 'Kirschgarten' die Tragödie des russischen Lebens erkannten. Er war überzeugt, dass es heitere Komödien, fast Vaudevilles waren. Er konnte seine Stücke niemals selbst beurteilen."

Hier drückt sich das Problem des vermeintlich dialektischen Verhältnisses von Drama und Theater aus: Ein Theatertext existiert zwar autonom in der fixen Schriftform des Autors, doch erst die Inszenierung haucht ihm Leben ein. Die Schönheit von Ivan Nagels Buch liegt in seinem radikalen Plädoyer für ein Regietheater, welches den Zuschauer in eine Ekstase des Verstehens versetzt, die sich zwischen konkreter sinnlicher Erfahrung, intellektueller Andeutung, verführerischer Rätselhaftigkeit und der Ahnung eines größeren Ganzen abspielt.

Den zeitgenössischen Regisseuren, vor allem den jungen, wirft Nagel Skepsis und "oft platten Zynismus" vor, der als Beweis ihrer Heutigkeit gelte. "Entsetzt rätselt man, ob eine Gesellschaft denkbar sei, in der Jungsein nur heißt: fit blieben im Wettrennen um die lohnendste Korruption." Zu harsch? Nagels Old-School-Attitüde sollte man sportlich nehmen, denn die Tatsache, dass er ein konstant fleißiger Theatergänger und oft gesehener Premierengast ist, zeigt, dass ihm das aktuelle Bühnengeschehen nicht gleichgültig ist.

Ivan Nagel ist seit knapp fünfzig Jahren aufs Engste mit dem Theater verbunden, als Kritiker, Dramaturg, Intendant, Buchautor, Festivalinitiator, Wissenschaftler - und damit sind noch nicht alle der vielen Rollen genannt, die er gespielt hat. Da wäre es für den geneigten Lesenden doch interessant zu wissen, was für einen wie ihn die größte Theateraufführung seines Lebens war. In diesem Buch verrät er es.


Titelbild

Ivan Nagel: Drama und Theater. Von Shakespeare bis Jelinek.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
199 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446207244

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