Physik und Magie

Was Erwin Schrödinger mit Magie und selbige mit Physik zu tun hat - nebst einigen Anmerkungen zu Ulrich Woelks Roman "Schrödingers Schlafzimmer"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht kennt der eine oder andere den Physiker Erwin Schrödinger oder hat im Zusammenhang mit seinem Namen etwas von Schrödingers Katze gehört. Und vielleicht verschwommen etwas von dem Kasten, in dem dieselbe angeblich eingesperrt sei. Bei diesen Informationen handelt es sich um die Bestandteile eines Gedankenexperiments zur Quantenphysik, dessen Urheber Erwin Schrödinger ist. Und eben Schrödinger ist auch die Bezugsgröße, vor der einer der Protagonisten des vorliegenden Romans agiert, Balthasar Schrödinger. Er ist seines Namens Enkel des besagten und berühmten Physikers und gleichzeitig Zauberer von Beruf - oder besser formuliert: Er ist Illusionist. Wie dieser Illusionist für Irritationen im Leben einer Familie mit zwei Kindern sorgt und was dies mit der Katze des Großvaters zu tun hat, versucht Ulrich Woelk dem Leser auf fast dreihundert Seiten näher zu bringen.

Oliver und Do leben in einer etwas "erschöpften" Beziehung, sind schon einige Jahre miteinander verheiratet und haben zwei Kinder. Beide sind im Beruf erfolgreich, er als Optiker, sie als Mitbesitzerin eines Geschenkartikelgeschäfts. Alles könnte entspannt und ruhig laufen, aber das Interesse beider Protagonisten aneinander ist im Laufe der Jahre zurückgegangen und sie schlafen seit Monaten nicht mehr miteinander. Was vor allem für Oliver zu einem immer größeren Problem wird. Die Probleme des Ehepaars miteinander kulminieren am deutlichsten bei den unterschiedlichen Erwartungshaltungen in Hinblick auf gemeinsamen Sex, wie Woelk seine Protagonistin Do treffend formulieren lässt: "Irgendwann würde er vielleicht einsehen, daß man Sex nicht einfach einfordern konnte wie andere Formen von kommunikativer Zuwendung, auch nicht von seiner Ehefrau." Die in Ehe und Freundeskreis Stagnierten erhalten einen Impuls von außen, als in ihrer Nachbarschaft der erwähnte Illusionist Schrödinger in ein leerstehendes, luxuriöses Nachbarhaus einzieht.

Aber der Illusionist bleibt auch ein solcher und wirkt nur als Katalysator für festgefahrene Beziehungen. Der Erzähler lässt Schrödinger hinter sich selbst verschwinden: "Seine stetige Rede strich wie ein gleichmäßiger warmer Wind über die Ebene von Dos Bewusstsein, ohne den leichtesten Gedankenstaub aufzuwirbeln. Dieser vollendet niveauvolle Mann genügte sich ganz und gar selbst. Aus welchen Quellen auch immer er schöpfte - wenn andere zugegen waren, floss er über, und es war nicht möglich, gegen den Strom seiner parlierenden Präsenz anzuschwimmen und zu ihrem Ursprung vorzudringen. Er hatte sich durch seinen Bühnenberuf zu sehr daran gewöhnt, alle Menschen als Zuschauer zu betrachten, die er zu unterhalten und in vollständige Gedankenlosigkeit zu versetzen hatte. Er selbst war der Zaubertrick, den er seinen Gästen vorführte. Und das so perfekt, dass niemand auf die Idee kam, nach dem Individuum hinter der Illusion oder gar nach dem Kern seines Wesens zu fragen. Er zauberte nicht, um andere zu täuschen, sondern um sich selbst zu schützen, um nicht preisgeben zu müssen, wer er war."

Die Wünsche und Vorstellungen, die die beiden Hauptfiguren und ein paar Nebendarsteller auf Schrödinger projizieren, verschwinden so schnell wie sie auftauchten. Was bleibt ist nur ein Schleier von Vorstellungen, die ebenso fein in die Geschichte des Romans eingeflochten sind, wie es Woelk auch auf der sprachlichen Ebene schafft, die illusionistischen Verschiebungen und Veränderungen der Personen wie "nebenbei" zu erzählen. Und alles fällt zwischendurch wieder auf die seltsame Ebene der Wirklichkeit, um nicht zu sagen Banalität zurück, wenn festgestellt wird: "Auf die Dauer kommt man nicht klar, wenn man nicht hin und wieder glücklich ist."

Es ist nicht die Magie oder Zauberkunst, die im Vordergrund steht, wie man es bei einer starken Romanfigur wie Schrödinger vermuten könnte, - also anders als etwa in Michael Schneiders "Spiegelkabinett". Es ist die Illusion, das Bild vom anderen, die Vorstellung, die Imagination, die für alle Beteiligten wichtig ist und die generell die Wahrnehmung des Gegenübers bestimmt. Diese Abhängigkeit von "Illusionen" wird durch Balthasar Schrödinger, seinen Ahnen Erwin und dessen "Katze im Kasten" materialisiert und problematisiert. Sie bekommt ein Gesicht. Und gerade die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Figur Schrödinger auf die eigentlichen Handlungsträger gelingt Woelk bravourös. Dass er zum Ende des Roman dann einen Deus Ex Machina zu Hilfe nimmt, sieht man ihm zuerst nach und anschließend gefällt die praktische Lösungsstrategie, vor allem auch, weil nicht auf eine selbstironische Reflexion verzichtet wird: "Im Garten erkannte sie einzelne Gehölze, die Eibe und den inzwischen verblühten Flieder, feuchtschimmernd unter dunklem Wolkenlila. Sie dachte: Kein Therapeut der Welt würde meinem Vorschlag, den Mantel des Schweigens über ein halbes Jahr voller Fehler zu decken, auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg einräumen."

Eigentlich hätte man gerne noch ein wenig mehr über Schrödinger gelesen. Über seine Profession und sein hervorragendes Timing in Situationen. Aber der Autor hält die Figuren zurück, zeichnet sie dennoch scharf und macht mit seiner ruhigen und klaren Sprache das, was er schon seit "Freigang" des öfteren unter Beweis gestellt hat, er schreibt einen guten Roman. Und am Ende ist man gespannt. Freut sich der gelungenen Lektüre: "Gleich würde Oliver die Tür öffnen. Und sie fing an, sich auszuziehen."


Titelbild

Ulrich Woelk: Schrödingers Schlafzimmer. Roman.
dtv Verlag, München 2007.
300 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-13: 9783423245616

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