Das Geschlecht der Zukunft

Birgit Dahlke parallelisiert Jugendkult und literarisierte Männlichkeit in der Literatur um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sind auf einem Gemälde Angehörige beider Geschlechter abgebildet und die des einen sind nackt, so sind es in aller Regel die Frauen, die der Künstler den Betrachtern vor und in dem Bild unbekleidet darbietet. Exemplarisch hier für ist das 1861 verfertigte Bild "Phryne vor den Richtern" des Malers Jean-Léon Gérôme. Weit seltener bietet die Kunstgeschichte hingegen den Anblick eines nackten Mannes, umgeben von bekleideten Frauen.

Den Umschlag einer Neuerscheinung aus der Reihe "Literatur - Kultur Geschlecht" des Böhlau Verlags jedoch ziert ein solches Bild: Ludwig von Hofmanns Ende des 19. Jahrhunderts entstandenes Gemälde "Der Frühlingssturm". Ein nackter Jüngling marschiert frischen Schrittes Arm in Arm mit zwei in bunt flatternde Gewänder gehüllten Mädchen eine felsige Küste entlang. Zugegeben, eine von ihnen ist barbusig. Doch immerhin.

Mit der Abbildung wurde eine in doppelter Hinsicht gute Wahl getroffen. Sie erregt die für den Verkauf des Bandes gewünschte Aufmerksamkeit und - wohl wichtiger noch - sie passt zum Inhalt des von Birgit Dahlke verfassten Buches. Unter dem Titel "Jünglinge der Moderne" geht die Autorin dem Zusammenhang von "Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900" nach. Das kündigt jedenfalls der Untertitel ihres Werkes an. Tatsächlich aber geht ihre Untersuchung weit über literarische Konstruktionen des im Jüngling sich treffenden Verhältnisses beider hinaus. Da sich weder die "enorme Aufwertung von 'Jugend' zu Beginn des 20. Jahrhunderts" noch die "inflationäre Verbreitung", welche die "männliche[n] Krisenfiguren" in dieser Zeit erfuhren, alleine anhand von literarischen Texten erklären lasse, legt Dahlke überzeugend dar, sei es "zwingend", das Themenfeld der Untersuchung auf pädagogische, psychologische, kulturphilosophische und jugendsoziologische Diskurse auszudehnen. Dabei unterscheidet sie nicht "streng" zwischen literarischem Text und seinem Kontext oder zwischen den Diskursen überhaupt, sondern begreift deren Gesamtheit als "dynamische[s] Verhältnis".

Diskursanalyse, kulturwissenschaftliche Germanistik und Männlichkeitsforschung liefern die Instrumentarien und Methoden der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Diskursanalyse fasst Dahlke Jugend und Männlichkeit als sprachliche Konstrukte. Unter Rückgriff auf die kulturwissenschaftliche Germanistik beleuchtet sie Literatur als "ein Kulturphänomen unter anderen", mithin als "Schauplatz, an dem Texte verschiedener Herkunft zirkulieren". Ausgerüstet mit den Erkenntnissen und Methoden der Männlichkeitsforschung nähert sie sich der "geschlechtertheoretischen Ebene" ihres Themas, wobei die implizite Distanzierung von den Gender Studies etwas merkwürdig anmutet. Denn Dahlke zufolge entwickelte sich die Männlichkeitsforschung seit den 1970er-Jahren nicht nur unabhängig von den Gender Studies - was man immerhin schon mit guten Gründen bestreiten könnte -, sondern sogar "parallel" zu ihnen. Parallelen aber berühren sich bekanntlich an keinem einzigen Punkt ihrer unendlichen Ausdehnung.

Jugendkultur und "Krisendiskurs Mann", beide um die vorletzte Jahrhundertwende von besonderer Virulenz, führt Dahlke im Begriff des Jünglings zusammen, der seinerzeit "das Geschlecht der Zukunft" verkörpert habe. So agieren in literarischen Werken denn auch nicht Heranwachsende beider Geschlechter, sondern ausschließlich männliche als Subjekte. Sie, und nur sie sind es, "um deren Zukunft die Autoren Sorge tragen". Das geht soweit, dass nur ihnen "[p]sychologische Tiefe, innere Konflikte und labyrinthische Verstrickung" zugestanden werden, und zwar "bis hin zum Selbstmord". Mädchenfiguren werden von den Schriftstellern der Zeit hingegen nur als "Objekte der Handlung" gezeigt. Dieses "Ungleichgewicht" der literarischen Geschlechterkonstruktionen ist Dahlke zufolge sozial begründet, womit sie sicher recht hat. Eine gewisse Rolle dürfte vermutlich aber auch das Geschlecht des Autors spielen. Insofern das Geschlecht immer (auch) ein soziales ist, ist diese Ergänzung jedoch kein Einwand gegen Dahlkes These, sondern allenfalls eine Präzisierung. Sie selbst bemerkt denn auch, dass zeitgenössische Autorinnen anders als ihre männlichen Kollegen sehr wohl weibliche Adoleszenz und ihre Probleme thematisieren. Dass dort nicht wie bei den männlichen Protagonisten männlicher Autoren die Ablösung von der (väterlichen) Autorität "auf der Tagesordnung" stand, sondern "projektive Übergriffe von Seiten der Erzieher und die Befreiung von verinnerlichten Normen, die die eigene Ichfindung behinderten", verwundert nicht.

In drei Hauptabschnitten liest die Autorin Jugend zunächst als "Epochensignatur", geht sodann "[m]üde[n] Jünglinge[n]" als "Figurationen in Texten der Jahrhundertwende" nach und wendet sich abschließend "Ermannungsstrategien" zu. Insbesondere der erste Abschnitt weist weit über das im Untertitel angekündigte Thema der Arbeit hinaus. So behandelt die Autorin hier etwa ganz allgemein den "Mythos Jugend um 1900", unternimmt einen ausführlichen und durchaus erhellenden "[b]egriffs- und sozialgeschichtlichen Exkurs" und thematisiert "Adoleszenz als gesellschaftliche Gefahr". Zwar zieht sie auch Texte von LiteratInnen heran, etwa Lou Andreas-Salomés "Drei Briefe an einen Knaben", doch zählen zu den hier verwandten Quellen nicht minder Ellen Keys pädagogische Schrift "Das Jahrhundert des Kindes" sowie andere nichtfiktionale, zumeist wissenschaftliche oder zumindest sich als solche verstehende Publikationen etwa von Hermine Hug-Hellmuth, Stanley Hall, Charlotte Bühler oder Georg Simmel. Besonders prominent ist Sigmund Freud vertreten.

Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts steht dann allerdings die Literatur, repräsentiert etwa durch Friedrich Huchs "Mao", Robert Musils "Die Verwirrung des Zöglings Törleß" oder Arthur Schnitzlers "Der einsame Weg". Hinzu kommen Texte von Thomas Mann, Stefan George und Rudolf Borchart sowie Frank Wedekinds Stück "Frühlingserwachen". Untersucht werden darüber hinaus Darstellungen der Jugend in "Arbeitererinnerungen" oder die "Krise des paternalen Erzählens" sowie auf 'weiblicher Seite' der von Else Lasker-Schüler, Franziska zu Reventlow und Lily von Braun betriebene "Sohneskult", der merkwürdigerweise ebenso wie "Der Fall Otto Gross" im Unterabschnitt zur "Literatur der Söhne" versteckt ist.

Der vielleicht interessanteste Teil der Arbeit findet sich am Ende des Buches. Im Schlussabschnitt beleuchtet die Autorin nicht nur "unakademische Pubertätstheorien" und "jugendrevolutionäre 'Sprechsaal'-Reden", mit denen namenlose "Jünglinge" versuchen, "sich Männlichkeit zu erschreiben bzw. zu erreden", sondern auch Texte heute noch berühmter und zum Teil berüchtigter Autoren der Zeit, wie etwa Walter Benjamin, dessen "Metaphysik der Jungend" Dahlke anhand seiner Schriften "Berliner Chronik" und "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" untersucht, oder Siegfried Bernfeld, dem - so zumindest die Autorin - Begründer der "modernen Jugendforschung", dessen Wirken sich nicht auf die Formel "Psychoanalyse und antiautoritäre Erziehung" reduzieren lasse, wie dies der Titel einer im 1968er Rebellengeist postum veröffentlichten Schriftensammlung unternimmt.

Zu den als Frauenfeinde berüchtigten Autoren zählt Hans Blüher, bei dem Antifeminismus wie so oft mit Antisemitismus Hand in Hand ging und der mit einer "spektakulären Deutung" der Wandervogelbewegung hervortrat, die das gesamte weibliche Geschlecht aus dieser Bewegung ausgeschlossen wissen wollte. Antifeministische und antisemitische "Gedankengänge" kennzeichnen auch die, wie Dahlke zurückhaltend formuliert "gewagte philosophische Doktorarbeit" des juvenilen Suizidanten Otto Weininger. Dass sein Buch ungeachtet der Ablehnung, auf die es "wegen des teilweise unseriösen Umgangs mit Quellen und der laienhaften Aufnahme von Erkenntnissen der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen" bei Akademikern stieß, schnell zum Bestseller avancierte, ist der enthusiastischen Reaktion zeitgenössischer Schriftsteller und Künstler anzulasten. "Wo eine Autorin mit ihrer Pathologisierung zu rechnen gehabt hätte", bemerkt Dahlke zutreffend, wurde von ihnen im Falle Weininger "der Geniediskurs entfaltet".


Titelbild

Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
274 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-10: 341210406X
ISBN-13: 9783412104061

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