Europa - Buenos Aires und zurück

Edgardo Cozarinsky gelingt das Kunststück einer hochreflektierten Auswandererschmonzette

Von Heide LutoschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heide Lutosch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von wegen "Sehnsucht nach Heimat und Identität"! Was das kurze Zitat auf dem Buchdeckel der deutschen Übersetzung verspricht, hält der erste Roman des argentinischen Regisseurs und Schriftstellers Edgardo Cozarinsky nicht - glücklicherweise, möchte man sagen. Schon die drei Lebensgeschichten, um die das Romangeschehen kreist, ähneln, überlappen und ergänzen sich auf derart merkwürdige Weise, dass es hier mit Identität - dem Selbst als innerer und nach außen abgegrenzter Einheit - nicht weit her ist. Konstruiert sind die drei ineinandergeschachtelten Biografien der Romanfiguren Theo, Samuel und Maxi als Variationen auf den Plot eines jiddischen Musiktheaterstückes, das sich im Buenos Aires der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts unter den armen jüdischen Einwanderern größter Beliebtheit erfreute: Ein als musizierender Jüngling getarnter Zuhälter entführt eine Reihe von armen jüdischen Mädchen aus Moldawien nach Argentinien, wo er eines von ihnen vor dem Gefängnis bewahrt, indem er die Schuld für den fehlgeschlagenen Mord an einer Bordellbesitzerin auf sich nimmt. Das Schlussbild zeigt ihn als umstrahlten Retter im Kreise seiner früheren Opfer.

Theo Auer, der fiktive Autor dieses trivialen und aus feministischer Sicht höchst fragwürdigen Musicals ist einer der drei Protagonisten des Romans, und seine Lebensgeschichte ist zwar nicht mit der des "Moldawischen Zuhälters" identisch, besteht aber aus den gleichen Versatzstücken. Die Milieus der Zuhälterei und Unterhaltungsmusik, das Motiv der Rettung des "gefallenen Mädchens", die Herkunft aus Osteuropa und das jiddische Theater prägen auch die Biografie des Musikers Samuel Warschauer. Selbst das Leben seines einzigen Sohnes Maxi gerät - an einem anderen Ort und zu einer vollkommen anderen Zeit - zum tragischen Abklatsch des Zuhältermusicals.

Was aber diese Männer mehr als die Ähnlichkeit der Lebensumstände und Konfliktlinien eint, ist die Tatsache, dass sie eines nicht sein wollen: sie selbst. Die Identität, die Samuel mit sich herumschleppt, ist die eines jüdischen Einwandererkindes. Früh legt er die Geige, "das einzige Instrument, das sich für einen anständigen jüdischen Jungen schickt", beiseite und greift zum Bandoneon, dem genuinen Instrument des argentinischen Tangos. Doch seine "Identität" holt ihn ein, bevor er dreißig ist: Auf verschlungenen Wegen und gegen seinen Willen wird er einer der Protagonisten des jiddischen Theaters in Buenos Aires. Sein Sohn kämpft im Paris des ausgehenden 20. Jahrhunderts sogar mit zwei Identitäten: der lateinamerikanischen Herkunft und dem jüdischen Ursprung, den er unter anderem dadurch "auszulöschen" versucht, dass er auch auf Geschäftsreisen niemals Deutsch spricht: Zu groß ist seine Angst, dass "der Schatten des Jiddischen gebieterisch darin auftauchen würde". Der halbseidene Autor des Musicals schließlich wählt ein Jahrhundert zuvor den kürzesten Weg, der eigenen Identität zu entkommen. Er erfindet für sich im "Moldawischen Zuhälter" eine alternative Lebensgeschichte, die, mit Musik und Tanz unterlegt, erträglicher und spannender ist als seine reale Existenz als Heiratsvermittler und Kleinkrimineller.

Oder ist auch diese Existenz bloß erfunden? Klein und immer kleiner wird der Bereich dessen, was auf der Ebene der Fiktion als "reales Geschehen" verbürgt ist; die meisten Handlungsstränge erweisen sich als doppelt fiktiv. Sie sind Geschichten, die die fiktiven Romanfiguren über sich selbst und andere erfinden. Als "real" übrig bleiben ein paar Personen, Namen und Fotos - und ein spätpubertärer Ich-Erzähler, der mit wenigen Fakten und viel Phantasie versucht, die Lebensgeschichten der drei Männer zu rekonstruieren.

Dieser Ich-Erzähler ist die große Schwäche des Romans. Angelegt als ein Mischwesen aus Forscher, Dichter und Detektiv kann er Wahrheit, Schönheit und Spannung mit seinem Bericht kaum jemals erzeugen. Zwar erhält der Leser durch seine unmotivierten Nachforschungen, Interviews und Schnüffeleien überaus interessante Einblicke in die frühe "Gemeinde" der jüdischen Einwanderer in Buenos Aires, die als solche offenbar kaum bezeichnet werden konnte. Als sozial stark ausdifferenziertes und damit überaus konfliktreiches Gebilde erscheint sie in Cozarinkys Roman wie eine Gesellschaft in der Gesellschaft, in der Arme und Reiche, Analphabeten und Gelehrte, Huren und Snobs nur eines gemeinsam haben: dass sie in der alten Welt grausam unter Antisemitismus gelitten haben und auch in der neuen Welt nicht ohne berechtigte Furcht vor ihm leben können. Die Angst, dem Judenhass Nahrung zu geben - als ob er die jemals gebraucht hätte! - erscheint denn auch als Grund dafür, dass die "Oberschicht" der jüdischen Flüchtlinge jenes beliebte und moralisch so fragwürdige jiddische Theaterstück verteufelt und die Mitglieder eines jüdischen Zuhälterrings rigoros und bis über den Tod hinaus aus ihren Reihen ausschließt.

Wie gesagt: all dies ist interessant und lehrreich und anscheinend auch weitgehend historisch verbürgt. Dass es aber in eine halbherzige Detektivgeschichte verpackt wird, die mit ihren an jeder Ecke stehenden auskunftsfreudigen Zeugen gefährlich an einen schlechten "Tatort" erinnert, ist schade. Als der der Gegenwart kritisch zugewandte Autor, der Cozarinsky ist, hat er sich vielleicht von den Möglichkeiten hinreißen lassen, die ein detektivischer Protagonist selbst demjenigen bietet, der eigentlich keinen Krimi schreiben möchte. Der Detektiv, dessen Beruf es ist, vom Heute aus ins (wie weit auch immer entfernte) Gestern zu schnüffeln, kann als Romanfigur dafür sorgen, dass die Vergangenheit, die den Reiz des Romans ausmachen soll, gleichwohl nicht als schillerndes und isoliertes Gebilde stilisiert wird, sondern konsequent auf die Gegenwart bezogen bleibt.

Dieser Bezug gelingt dann im Detail wieder so überzeugend, dass das abwegige Thema des jiddischen Musicals eine Brisanz erhält, auf die man als Leser nicht gefasst war. Die Linie, die der Roman von den pittoresken Stories aus dem Umfeld der jüdischen Zuhältermafia im Buenos Aires des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu den jungen Frauen aus dem Kosovo zieht, die heute an den Pariser Ausfallsstraßen auf Freier warten, erscheint plötzlich nicht nur möglich, sondern notwendig.

Unmöglich dagegen wäre es, das wird bei Cozarinsky überdeutlich, die von einem Rest von Abenteuer umwehten Einwandererschicksale der Jahrhundertwende auszumalen und von der europäischen Asylpolitik der Gegenwart zu schweigen: So wie die Menschen von ihrer Identität, werden die erfundenen Geschichten von einer alles andere als malerischen Wirklichkeit eingeholt.


Titelbild

Edgardo Cozarinsky: Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich... Roman.
Übersetzt aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
128 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-13: 9783803132109

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