Deutungsresistent

Zwei Bücher zu Franz Kafka verhelfen zu ersten Einsichten

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der seit eineinhalb Jahrzehnten bewährte "Text und Kritik"-Band zu Franz Kafka ist in seiner zweiten Auflage um fünf Artikel ergänzt worden, das Gros der Beiträge wurde unverändert übernommen. Da es sich durchweg um lesenswerte Einführungen in fast alle Textgruppen Kafkas handelt, darunter Hermann Kortes kundige Ausführungen zu den Tagebüchern und Michael Tötebergs Beitrag zu den Amtlichen Schriften, ist gegen diesen Kernbestand kaum etwas einzuwenden. (Gravierend ist freilich nach wie vor die weitgehende Aussparung der Erzählungen aus dem Nachlass.)

Genau wie für Klaus-Detlef Müllers Einführung gilt: Der Band wiederholt den Topos vom bleibenden Geheimnis der Texte Kafkas - trotz und wegen eines Heers von Interpreten. Schon 1993 hatte Michael Müllers Forschungsüberblick die These plausibel gemacht, dass sich unser Wissen über den Autor und seine Texte zwar vermehre, auch aufgrund zunehmender editorischer Avanciertheit, dass der ehemals durch Max Brod mystifizierte Kafka uns immer menschlicher erscheine, das Verstehen der Texte aber dennoch ausbleibe.

Diese Skepsis gegen jede Deutung, die Insistenz auf der Buchstäblichkeit in Kafkas Texten und auf der Materialität der Zeichen in Kafkas Handschriften begann schon in den 1990er-Jahren die Kafka-Forschung zu bestimmen. Die Fokussierung von Kafkas Pendeln zwischen 'Leben' und 'Schreiben' verbindet ja auch die beiden neuesten großen Kafka-Monografien - Peter-André Alts Kafka-Biografie "Der ewige Sohn" und Oliver Jahraus' Buch "Leben. Schreiben. Machtapparate" - idealtypisch.

Fünf Artikel kommen also im neuen "Text und Kritik"-Band hinzu. Die Neuauflage bezeichnet damit eine Zäsur in der Kafka-Forschung: Mit Jost Schillemeit und Malcolm Pasley sind zwei Todesfälle im Herausgeberkreis der Kritischen Kafka-Ausgabe (KKA) zu beklagen; vor allem Schillemeits Lebenswerk wird mittels zweier Nachrufe und des Abdrucks eines älteren Aufsatzes ("Welt im Werk Franz Kafkas") Tribut gezollt. Auch die beiden anderen Neuzugänge möchten die Bedeutung des Editorischen für die jüngere Kafka-Forschung artikulieren, nämlich Michael Müllers Heranführung des kritischen Forschungsberichts an die Gegenwart und Bodo Plachtas Aufsatz zu den beiden kritischen Ausgaben - zur KKA gesellt sich mittlerweile die Frankfurter Kafka-Ausgabe (FKA). Plachta als herausragender Vertreter der Editionswissenschaft prophezeit natürlich die zunehmende Relevanz des genauen Blicks auf Kafkas Handschriften. Michael Müller ist weniger optimistisch: Zu seinem Bedauern wirkt sich die editorische Arbeit an Kafkas Texten bislang nicht oder zuwenig auf die interpretatorische Praxis aus - in der Kafka-Forschung wie anderswo besitzt also das oft emphatische Interesse an Fragen der Schrift und des Schreibens kaum ein Korrelat, das sich philologischer Kompetenz verdankte. Doch ist die KKA noch nicht einmal vollendet, so bleibt von der FKA noch vieles zu erwarten. Der "Text und Kritik"-Band ist auch in dieser Hinsicht noch vorwiegend Rückblick auf die 90er-Jahre.

Klaus-Detlef Müllers Einführung in Kafkas Romane richtet sich, wie die gesamte Reihe "Klassiker Lektüren", vorwiegend an Studierende, die sich von der kaum noch auf Einzeltexte bezogenen neueren Kafka-Forschung geradezu erschlagen fühlen müssen. Hatten die Kafka-Monografien der 50er- und 60er-Jahre von Wilhelm Emrich, Heinz Politzer oder Walter Sokel noch Text um Text interpretiert, sind heutige Kafka-Monografien meist sowenig hermeneutisch orientiert wie überschaubar gegliedert.

Müllers Bändchen schafft Abhilfe, indem es zu allen drei Romanfragmenten kommentierende und räsonnierende Inhaltsanalysen bietet und damit dem Leser eines schwer verständlichen Klassikers der Moderne einen Leitfaden an die Hand geben will. Doch ist es sinnvoll, ausgerechnet die Romanfragmente aus dem großen Text-Gebirge Kafkas herauszubrechen? Kann eine mehr oder weniger textinterne Analyse diesen Texten gerecht werden?

Im Gegensatz zu Hans Dieter Zimmermanns sehr lesenswertem Buch "Kafka für Fortgeschrittene" bekennt sich dieses Bändchen dazu, einen Kafka für Anfänger zu präsentieren. Und unter dieser Prämisse ist es nicht nur tragbar, sondern geradezu eine Notwendigkeit. Dem Anfänger darf auf leicht verständliche Weise erklärt werden, wie sich Kafkas zunächst so einleuchtende Texte dann sukzessive dem Verstehen entziehen, wie dies Gerhard Neumann in seiner These vom 'gleitenden Paradox' vor nun bald vier Jahrzehnten dargelegt hat. Müller spricht von einer "permanenten Verschiebung des vermeintlich Wahrgenommenen. Aus der Differenz zu den Erwartungen einer vorab scheinbar gesicherten Kategorisierung gewinnen Erfahrungen Kontur, die sich dann gleichwohl einer neuen und anderen Benennung entziehen." Gut: den Forschungsstand umreißt Müller ein wenig knapp, sein kulturanthropologischer Bezug auf Geertz' Konzept der 'Dichten Beschreibung' geht im Verlauf der Darstellung wieder unter - dem unerfahrenen Leser gibt Müller doch immerhin erste, zur weiteren Lektüre anregende Orientierung. Sonderlich neu ist das alles nicht, auf die Kafka-Einführung für das 21. Jahrhundert muss der Leser noch warten.


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Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Franz Kafka. text+kritik-Sonderband. 2., gründlich überarbeitete Auflage.
edition text & kritik, München 2006.
360 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3883778265

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Titelbild

Klaus-Detlef Müller: Franz Kafka.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007.
150 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098132

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