Das Fotografische des Textes

Michael Neumann untersucht "Eine Literaturgeschichte der Photographie"

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Erstaunen, das die Zeitgenossen Daguerres angesichts der ersten Fotografien erfasste, mag für uns heute kaum noch nachvollziehbar sein. Zu sehr ist unser Alltag von technisch produzierten Bildern beherrscht, als dass die Entstehung eines Bildes scheinbar ohne menschliches Zutun noch als Sensation erscheinen könnte. Die Probleme, die sich im Umfeld des fotografischen Bildes für althergebrachte Darstellungsmittel ergaben, können so leicht aus dem Blick geraten. Die Fotografie hat nicht nur, wie Roland Barthes es einmal ausdrückte, ein "neues Gen" in die "Familie der Bilder" eingeführt, sondern sie hat auch auf andere Repräsentationssysteme eine nicht zu unterschätzende Wirkung ausgeübt. Nicht zuletzt der Status der Schrift, die Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem, geriet angesichts des Phantasmas eines unmittelbaren Bezugs auf die Wirklichkeit im fotografischen Bild in Bewegung.

Vor diesem Hintergrund versucht Michael Neumann die kulturelle Verortung der Fotografie in der Literatur zu erfassen. Ihm geht es dabei nicht um eine bloße Motivgeschichte, sondern um die poetologischen Effekte, die sich aus der Auseinandersetzung literarischer Texte mit dem Fotografischen ergaben. Für diesen Zweck wählt er eine an Blumenberg orientierte metaphorologische Herangehensweise und konzentriert sich auf Texte, die, wie er schreibt, "ein Bewußtsein für die Logik und Epistemologie photographischer Metaphern entwickeln." Dieser Ausgangpunkt ist insofern überzeugend gewählt, da so über die Auswirkungen der Fotografie auf literarische Texte hinaus die rückwirkenden Veränderungen in den Blick geraten, die das Konzept des Fotografischen durch seine literarischen Behandlungen selbst erfährt - und damit auch die Veränderungen von Begriffen wie Wahrheit, Evidenz und Schrift. Interessant ist hierbei Neumanns These, dass literarische Texte oftmals der eigentlichen Theoriebildung zur Fotografie vorgriffen, indem sie spätere Bestimmungen des Mediums in ihrer Textstruktur bereits vorprägten. In der Gegenüberstellung literarischer und anderer - zum Beispiel ästhetischer oder naturwissenschaftlicher - Diskurse zur Fotografie wird in der Arbeit ein Echoraum geschaffen, innerhalb dessen die mit der Metaphorik der verschiedenen Texte implizierten Sinnhorizonte deutlich werden.

Die Bezüge zwischen der Fotografie und den Texten sind in bestimmten historischen Konfigurationen zu betrachten. Da die Fotografie zudem nicht bei ihrem Erscheinen mit einem Mal die Konzepte des Literarischen durcheinander brachte, geht Neumann zunächst einen Schritt zurück und bestimmt das Umfeld, in das sie einbrach. In überzeugender Weise stellt er das Verhältnis von Repräsentation, Sichtbarkeit und Erzählung anhand verschiedener optischer Medien in Texten E.T.A. Hoffmanns und Goethes in ihrer Hindeutung auf die Fotografie heraus. Auf diese Weise verdeutlichen sich die Voraussetzungen für die Aufnahme der Fotografie in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Bei der anschließenden Behandlung der Literatur des Realismus und des Naturalismus ist positiv hervorzuheben, dass Neumann sich nicht auf die Ebene eines direkten Vergleichs der Visualität der literarischen Beschreibung mit der des fotografischen Bildes begibt. Von solchen oftmals ziemlich spekulativ ausfallenden Versuchen hält ihn bereits sein methodischer Ansatz ab. Ihm geht es eher um die Topik von ,Oberfläche' und ,Tiefe', die in ästhetischen Diskursen zur Abgrenzung der angeblich bloßen Kopie der Wirklichkeit in der Fotografie von ihrem künstlerischen Abbild in der Literatur virulent wird - eine Dichotomie, die er als Gemeinplatz bis in heutige Auseinandersetzungen hinein wirksam sieht.

Eine weitere wichtige Rolle nimmt die Fotografie als Gedächtnismedium ein. Die Präsenz der Vergangenheit im Bild kann hier als Gefahr erscheinen, die das Erzählen erst mit der Schaffung einer sinnstiftenden Einheit bannen soll. Dieser Problematik geht Neumann in Texten unter anderem von Theodor Storm und Wilhelm Raabe nach. In interessanter Weise stellt er dabei Bezüge zu den Thesen Nietzsches vom Nutzen und Nachteil der Historie her. Zum Teil wird dabei jedoch auch deutlich, was ein allgemeines Problem der Arbeit ist: Um die Bezüge der Texte untereinander herauszustellen, führt der Autor viele Zitate immer wieder an, allerdings, ohne noch einmal die jeweilige Quelle zu nennen. Diese Praxis trägt nicht immer zur Übersichtlichkeit bei. Der Echoraum der Texte kann bisweilen zum Labyrinth geraten, in dem der Leser nur mit einiger Mühe durch die richtige Zuordnung der Anführungen den Stellenwert des Arguments nachvollziehen kann. Doch abgesehen von diesem der Lesbarkeit nicht immer zuträglichen Charakter der Arbeit finden sich weiterhin interessante Ergebnisse hinsichtlich der poetologischen Funktion der Fotografie in Texten der Moderne (unter anderem bei Marcel Proust, Franz Kafka, Thomas Mann und Robert Musil). Eine für das Buch zentrale Gedankenfigur wird in einem längeren Kapitel zu Ernst Jünger noch einmal besonders deutlich. Die metaphorischen Anverwandlungen der Fotografie dienen in der Literatur oftmals dazu, dem Text jene Evidenz und Sichtbarkeit zuzueignen, deren Mangel das Schreiben gerade angesichts der Fotografie umso deutlicher empfindet.

Das Kapitel zu Jünger ist zugleich ein Übergang zur Behandlung der Fotografie in der Literatur nach 1945. Während Jüngers Schriften der 30er- und 40er-Jahre noch im Kontext faschistischer Technikbegeisterung standen, wendet sich das Bild nach dem Krieg hin zu einer Kulturkritik, derzufolge der Apparat das ,Eigentliche' nicht erfassen könne. Allgemein steht Neumann medientheoretischen Konzepten einer allgemeinen Verfehlung oder eines Verschwindens des Wirklichen im technischen Bild kritisch gegenüber, indem er auf die Durchgängigkeit der in ihnen wirksamen Gemeinplätzen verweist. Leider kommt es ihm dabei zu sehr auf Kontinuitäten an. So verfällt er beim Versuch, auch Theodor W. Adornos kulturkritische Thesen in diesem Kontext zu verorten - wobei er die Rolle der Fotografie recht einseitig herausstreicht -, selbst wieder in Gemeinplätze heute gängiger Ablehnung der kritischen Theorie.

Bei den Analysen der literarischen Texte nach 1945 sind vor allem die zu Günter Grass und Uwe Johnson hervorzuheben. Hier zeigt sich, was nach der Katastrophe der Nazizeit eine wesentliche Funktion von Fotografien in der Literatur sein kann: sie sind Zeugnisse für eine schwer zugänglich gewordene Vergangenheit. Die diesen Zeugnischarakter tragende Annahme einer Authentizität des Bildes wird heute nachhaltig durch die digitale Fotografie erschüttert. In einem trotz seiner Kürze sehr interessanten Ausblick geht Neumann diesen Veränderungen im Bild der Fotografie "nach der Fotografie" vor allem anhand einiger Gedichte Durs Grünbeins nach. Er beendet damit ein die Bedeutung des fotografischen Mediums für das literarische Schreiben methodisch sehr anregend reflektierendes Buch.


Titelbild

Michael Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2006.
354 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3937672214
ISBN-13: 9783937672212

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