Das Chamäleon, das sich treu blieb

Eine Goethe-Einführung von Friedrich Sengle

Von Anja HöferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Höfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ei, bin ich denn darum 80 Jahre alt geworden, dass ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr, täglich etwas anderes, Neues zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muss sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken." Der alte Goethe konnte erstaunlich schnippisch sein. Doch steckt hinter der beiläufig-mürrischen Äußerung gegenüber Kanzler von Müller vom 24. April 1830 mehr als die Koketterie des Alters. Eine Lebenshaltung spricht sich darin aus.

Das von ihm immer wieder beschworene Prinzip der Metamorphose ließ Goethe nicht nur für die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Natur gelten, sondern auch und vor allem für seine eigene Existenz. Als Proteus, als Genie der Verwandlung haben Zeitgenossen ihn oft charakterisiert, und es gibt wohl kaum einen anderen deutschen Schriftsteller, der sich so hartnäckig einer bestimmten Etikettierung entzieht - sieht man einmal ab von dem wenig aussagekräftigen Prädikat des "Klassikers".

Dass sich dennoch hinter der einzigartigen Vielgestalt des Goetheschen Œuvres bestimmte Konstanten und Grundlinien entdecken lassen, ist die leitende Idee der posthum erschienenen Goethe-Einführung "Kontinuität und Wandlung" des 1994 verstorbenen Germanisten Friedrich Sengle, berühmt vor allem durch seine monumentale Literaturgeschichte der "Biedermeierzeit". Noch kurz vor seinem Tod konnte Sengle, der zeitweilig auch in Heidelberg lehrte, die viel beachtete Studie "Das Genie und sein Fürst" abschließen, über Goethes Verhältnis zu seinem Freund und Mäzen Carl August. Nun hat Marianne Tilch Sengles mehrfach überarbeitete Münchener Goethe-Vorlesung aus den Jahren von 1968 bis 1976 ergänzt um ein Nachwort von Manfred Windfuhr herausgegeben.

Mit souveränem synthetischen Zugriff präsentiert Sengle den Goethe-Kosmos, bietet konzentrierte Werkanalysen und verweist, der Idee der "Kontinuität" folgend, immer wieder auf die verbindenden Elemente hinter den wechselnden Epochensignaturen. So kann er, ein strenger Positivist und äußerst gewissenhafter Philologe, überzeugend belegen, wie stark Goethe nicht nur in der Frühphase seines dichterischen Schaffens, sondern bis hin zu solch scheinbar experimentellen Alterswerken wie dem "West-östlichen Divan" von der Kultur und Ästhetik des Rokoko beeinflusst blieb. Eng verwandt mit dieser "Rokokoleichtigkeit", die sich Goethe nach Sengle sein ganzes Leben lang bewahrte, ist die Idee der "Heiterkeit". Sengle hebt diesen für Goethes Schaffen so zentralen - von der Forschung allerdings bisher kaum beachteten - Begriff immer wieder hervor, verweist zugleich auf die "komplizierte Doppelschichtigkeit", die er bei Goethe erhält: "Heiterkeit ist nicht einfach Frohsinn, sondern überwundene Leidenschaftlichkeit. Heiter wird man durch Entsagung."

Nicht nur auf solche Konstanten, auch auf Goethes außerordentliche Wandlungsfähigkeit richtet sich Sengles Blick: Wie ein Chamäleon wechselte der Dichter zwischen den verschiedensten Stilarten, leistete in allen Gattungen Herausragendes und wirkte nicht selten traditionsstiftend. Dabei hält Sengle Goethe keineswegs für einen besonders originellen Autor. In gattungsgeschichtlicher Hinsicht, so konstatiert er, waren andere Dichter deutlich produktiver. Goethes epochemachende Wirkung führt er vielmehr auf dessen untrüglichen Sinn für das "Zeitnotwendige" zurück: "Goethe stand zu allen Zeiten an der Front der geistigen und literarischen Entwicklung [...]. Er hatte immer ein Gespür für das, was in seiner Zeit fruchtbar war. Er sah, woraus sich etwas machen ließ." Ausführlich würdigt Sengle Goethes Pionierleistungen auf den Gebieten des historischen Dramas ("Götz"), des modernen Künstlerdramas ("Torquato Tasso") und des Bildungsromans ("Wilhelm Meister").

Ohne rhetorischen Schmuck, manchmal etwas spröde, aber immer klar und pointiert entfaltet Sengle seine Gedanken, und der mündliche Charakter der Studie besitzt durchaus seinen eigenen Charme. So meint man beim Lesen gelegentlich den Vortragenden vor sich zu sehen, wie er den Blick für einen Moment vom Manuskript hebt und eine saloppe Randbemerkung fallen lässt, etwa jene über Bettine von Arnim: "Sie gehört zu den aufdringlichen Damen, welche die größte Plage berühmter Künstler sind." Dass Sengle aus seinen persönlichen Vorlieben und Abneigungen keinen Hehl macht, auch amüsante Seitenhiebe auf Kollegen der Germanistenzunft äußert, verleiht der Darstellung zusätzlich Farbe und Lebendigkeit. Allen, die nach neuen Einblicken in alte Goethe Texte suchen, sei dieses Buch dringend empfohlen.

Titelbild

Friedrich Sengle: Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
295 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3825308316

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