Der Inhalt der Leere

Christina von Braun und Bettina Mathes schreiben in „Verschleierte Wirklichkeit“ über den ‚westlichen Blick‘ auf ‚die Muslima‘

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich eine druckfrische Neuerscheinung als „unverzichtbares Standardwerk“ „renommierter Wissenschaftlerinnen“ preist, so ist das mehr als vollmundig. Wissenschaftliches Renommee genießen Christina von Braun und Bettina Mathes, die beiden Autorinnen eines soeben unter dem Titel „Verschleierte Wirklichkeit“ erschienen Buches über „[d]ie Frau, de[n] Islam und de[n] Westen“ zweifellos. Und zumindest von Braun hat im Laufe der Jahre auch schon das eine oder andere Standardwerk auf den Weg gebracht (vgl. etwa literaturkritik.de 7/2000 oder literaturkritik.de 6/2005). Doch ist ein Buch schwerlich bereits bei seinem Erscheinen als solches zu bezeichnen. Vielmehr erweist erst die Rezeption(sgeschichte), ob ihm dieser Ehrentitel zukommt. Doch die Autorinnen scheuen sich nicht, ihre Häupter via Klappentext mit derlei Vorschusslorbeeren bekränzen zu lassen.

Auch wenn sie selbst nicht umhin kommen, die Begriffe ‚den Orient‘ und ‚den Okzident‘ immer wieder zu benutzen, konstatieren sie eingangs ihres Werkes völlig zutreffend, „daß es weder ‚die‘ Geschichte gibt noch ‚den‘ Orient oder Okzident“, sondern nur „Positionen, aus denen heraus diese entworfen werden“. Die „Entstehungsgeschichte dieser Standorte“ ist es nun, die das Interesse von Brauns und Mathes‘ weckt. Inhalt des Buches ist daher nicht die Erörterung der Fragen, „was der Orient ‚ist‘ und was man unter ‚dem Westen‘ zu verstehen hat“, auch nicht der „transkulturelle Austausch“ beider. Vielmehr richten die Autorinnen ihr Interesse auf „das ‚Dazwischen‘: auf die Art, wie sich die Annahmen der einen Seite mit denen der anderen verbinden oder zur gegenseitigen Abgrenzung führen“.

Insgesamt nehmen die Autorinnen die Wahrnehmung ‚des Orients‘ durch den ‚Okzident‘ beziehungsweise ‚den Westen‘ weit genauer in den Blick als umgekehrt. Denn das eigentliche Thema des Buches bildet „das ‚rätselhafte‘ westliche Subjekt im Spiegel des ‚Rätsels Islam‘“. Als „Leitfaden“ dienen ihnen die Geschlechterordnung und die Frage, wie der Dialog zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ „in der Auseinandersetzung über die ‚richtige‘ Geschlechterordnung in Erscheinung tritt“. Man sei es zwar gewohnt, die symbolische Geschlechterordnung einer Religion oder einer Kultur an der Rolle der Frau „festzumachen“. Tatsächlich aber sei die „Vorstellung“ von Männlichkeit und Vaterschaft „[v]iel aufschlussreicher“. Wenn dem so sein sollte, stellt sich allerdings die Frage, warum der Untertitel des Buches „Die Frau, der Islam und der Westen“ lautet und es sich selbst ganz wesentlich mit eben dieser Trias und kaum mit der sozialen und diskursiven Konstruktion von Männern und Vätern befasst.

Nicht die islamisch geprägten Kulturen ins Zentrum des Interesses zu stellen, sondern den ‚westlichen Blick‘ auf sie, ist ein interessanter, da innovative Erkenntnisse versprechender Ansatz. Von Brauns und Mathes‘ Ausführung dieses Vorhabens vermag allerdings durchaus nicht immer zu überzeugen. Schon der erste Satz des Buches – „Aus dem Morgenland kam alles, was bis heute die westlichen Gesellschaften prägt“ – macht stutzig. Auch die Aufklärung? fragt man sich unwillkürlich. Doch die wird von den Autorinnen weithin mit Nichtachtung gestraft. Erst nach gut 200 Seiten wird sie einmal beiläufig erwähnt, das heißt gescholten. Statt die Aufklärung angemessen zu würdigen, führen sie die vielfältigen westlichen Kulturen allzu monokausal auf ihr ‚christliches Erbe‘ zurück und lassen sie fast auf die christliche Religion zusammenschnurren. Wird die Aufklärung von den Autorinnen offenbar gering geschätzt, so muss man eine grundsätzliche Religions- oder auch nur Monotheismuskritik ganz vermissen. Statt dessen erklären sie umgekehrt, Fundamentalismus breite sich dort aus, „wo Fundament fehlt – und zwar das religiöse“, womit nicht etwa Menschen wie Khomeini zu fundamentalistischen Tendenzen neigen dürften, sondern insbesondere Atheisten.

Gelegentlich verführt die Autorinnen ihr Wille zur – hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse ja oft berechtigten – Kritik am ‚Westen‘ dazu, Pappkameraden aufzubauen, auf die sich dann vorzüglich einprügeln lässt. So verkünden sie etwa ihre Ansicht, „daß sich hinter dem Interesse am Orient und den Schriften, die im Westen darüber erschienen sind, vor allem eins verbirgt: die ‚Verschleierung‘ der Tatsache, daß die Perspektive des Westens alles andere als ‚objektiv‘ und ‚neutral‘ ist“. Wer diesen ‚objektiven Blick‘ für sich in Anspruch nimmt, verraten die Autorinnen nicht. Islamkritische WissenschaftlerInnen wohl kaum, und PolitikerInnen ebenfalls nicht. Ärger noch ist die Unterstellung, von einer Zwangsehe bedrohte Frauen bekämen hierzulande signalisiert, sie könnten nur dann auf Schutz hoffen, wenn „wenn du so geworden bist wie wir – das heißt ohne Kopftuch“.

Mit einigen gewinnbringenden Erkenntnissen warten die Autorinnen im Kapitel über die „zwei Wissensordnungen“ des Orients und des Okzidents auf, in dem sie die Entstehung des ‚männlich‘-okzidentalen Blicks auf den für diesen ‚weiblichen‘ Orient beleuchten. Ebenfalls über weite Strecken erhellend ist der folgende, dem „weibliche[n] Körper als ‚portative[m] Mutterland‘“ gewidmete Abschnitt. Erst hier wird die bereits zuvor behauptete historische „Kombination von Kolonialdiskurs und Feminismus“ überzeugend dargelegt, die die verheerende Wirkung zeitigte, dass die Emanzipation der Frau in arabischen Ländern nach 1900 vom „Stigma der Verwestlichung“ geprägt war.

Im Laufe der ersten Kapitel flechten die Autorinnen gelegentlich ein, dass sie mit dieser oder jener der in verschiedenen islamisch geprägten Kulturen üblichen Gender-Praktiken wie etwa der Zwangsverheiratung oder dem ‚Ehren‘mord nicht einverstanden sind. Doch wirken diese Bemerkungen wie lästige, fast unwillig absolvierte Pflichtübungen. Vor allem aber werden sie oft relativiert, indem von Braun und Mathes die Verfehlungen ‚des Westens‘ daneben stellen; oder aber die Autorinnen wenden sich sogleich wieder den ‚positiven‘ Seiten des Islams zu, wozu sie offenbar das Kopftuch rechnen.

Überhaupt neigen von Braun und Mathes dazu, den fast ubiquitären Sexismus islamisch geprägter Kulturen zu verharmlosen. Dass die „Sexualordnung des Islam“ die „Unterdrückung der Frauen“ beinhalte, habe zwar für „die Taliban in Afghanistan“ zugetroffen, räumen sie ein. Für das wahhabitische Regime der Geschlechterapartheid in Saudi Arabien wollen sie das jedoch ausdrücklich schon nur noch „in mancher Hinsicht“ gelten lassen, um sodann etliche Beispiele folgen zu lassen, die belegen sollen, wie emanzipiert Frauen in anderen islamischen Ländern doch seien. In Iran etwa seien über die Hälfte aller Studierenden und in Jordanien immerhin der Medizin-StudentInnen Frauen, in Ägypten kontrollierten „viele Polizistinnen“ die Straßen und in Palästina und Syrien gäbe es sogar „viele weibliche Anwälte“.

Lahm wirkt auch ihre Distanzierung von den „gewaltsamen Proteste[n]“, mit denen von islamischer Seite auf die Mohamed-Karikaturen reagiert wurde. Zwar seien brennende Botschaften und Kultureinrichtungen europäischer Staaten – die als Rache für die Karikaturen verübten Morde und per Kofferbomben versuchten Massenmorde werden nicht erwähnt – „zu verurteilen“, wundern dürfe man sich darüber aber nicht, sei Mohamed doch in „entwürdigenden Posen“ dargestellt worden. Dass einige der bis zu Mord und Terror reichenden Reaktionen eine der Karikaturen – sie zeigt Mohamed, aus dessen Turban die brennende Lunte einer Bombe ragt – geradezu bestätigen, scheint ihnen entgangen zu sein. Ähnlich befremdlich äußern sich von Braun und Mathes über Ayaan Hirsi Alis Film „Submission“, den sie kurzerhand dem pornografischen Genre zuschlagen. Denn er habe „die Kritik am Islam in Pornographie übersetzt“ und drücke somit nichts weiter als die „Gewalt des Voyeurismus“ aus. Das „pornographische Imaginäre des Westens, das die Entschleierung der Muslima fordert“ sei noch nie „so ungeschminkt“ gezeigt worden. In beiden Fällen empfehlen die Autorinnen, „zukünftig die gewaltige und unter Umständen Gewalt auslösende Wirkungsmacht symbolischer und unbewusster Ordnungen im Umgang mit Fremden Ernst zu nehmen“ und legen damit implizit nahe, Selbstzensur zu üben.

In späteren Kapiteln stellen von Braun und Mathes frauenfeindliche kulturelle Praktiken, wie sie in islamisch geprägten Kulturen geübt werden, denjenigen in ‚westlichen‘ Gesellschaften ausführlicher gegenüber. Wobei sie immer wieder und sehr zu recht, die sexistischen Praktiken ‚westlicher‘ Kulturen geißeln. In diesem Sinne besonders verdienstlich ist der Abschnitt über den ‚östlichen‘ ‚Ehren‘mord und die – wie es hierzulande verharmlosend und die Geschlechterspezifik von Tätern und Opfern verschleiernd heißt – ‚westlichen‘ „Familientragödien“. Dem Begriff des ‚Ehren‘mordes, das sei hier angemerkt, würde der des ‚Liebes‘mordes weit besser entsprechen. Denn wie dieser aus verletzter ‚Ehre‘, so wird dieser angeblich aus (enttäuschter, zurückgewiesener oder sonst wie) verletzter ‚Liebe‘ begangen.

Zu Recht, sagen die Autorinnen habe der ‚Ehren‘mord an Hatun Sürücü über einen längeren Zeitraum hinweg die deutschen Schlagzeilen beherrscht. Warum aber, so fragen sie, sind den gleichen Zeitungen die ‚Familientragödien‘, hinter denen sich in aller Regel ein Mann verbirgt, der seine Frau, Freundin oder Geliebte ermordet, weil sie ihn (aus, wie spätestens seine Tat zeigt, guten Gründen) verlassen wollte, allenfalls mal eine Drei- oder Vier-Zeilenmeldung wert? Diesen Skandal kann man in der Tat gar nicht laut genug heraus- beziehungsweise in die (westliche) Welt hineinschreien: Sowohl bei ‚Ehren‘- als auch bei ‚Liebes‘morden müssen Frauen sterben, weil sie ihren eigenen Weg gehen wollen. Und die Autorinnen machen noch auf eine weitere Gemeinsamkeit aufmerksam. Sowohl beim ‚Ehren‘- als auch beim ‚Liebes‘mord neigen die RichterInnen hierzulande dazu, den Tätern mildernde Umstände zuzugestehen.

Wenig Interesse bringen von Braun und Mathes hingegen für einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen beiden Morden auf. Die ‚Ehren‘mörder können auf die Unterstützung und Zustimmung ihrer in aller Regel islamischen community rechnen, die ihre Tat nicht nur gutheißt, sondern geradezu fordert. ‚Westliche‘ ‚Liebes‘mörder können schwerlich einen solchen Rückhalt innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfeldes erwarten‘ noch viel weniger fordert dieses sie zu der Untat auf.

Stellen von Braun und Mathes den ‚Ehren‘mörder neben den ‚Liebes‘mörder, so die Zwangsehe neben die Prostitution. Die Empörung über Zwangsehe und Brautimport werde von ihnen zwar nicht kritisiert, doch erstaune sie das „beredte Schweigen über Menschenhandel und Zwangsprostitution, der viele Frauen in den Bordellen der westlichen Länder oder durch Sextourismus ausgesetzt sind“. Zurecht weisen die Autorinnen darauf hin, dass Zwangsprostituierte in einer Abhängigkeit von Männern leben, „mit deren Gewalt und Vergewaltigungspraxis sich vermutlich nur wenige der islamischen Ehemänner messen können“. Die Kritik der Autorinnen an dem doppelten Skandal der (Zwangs-)Prostitution und ihrer gesellschaftlichen Toleranz gehört dick und doppelt unterstrichen.

Doch nicht allen ihren Ausführungen zu diesem Thema kann man so vorbehaltlos zustimmen. „Wenn es in Deutschland eine ‚Parallelgesellschaft‘ gibt, so besteht sie in der Prostitutionsindustrie. Nur ist diese ‚Parallelgesellschaft‘ kompatibel mit der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und sie bewegt sich innerhalb unserer Verfassungsnormen“, meinen die Autorinnen. Hieran ist so ziemlich alles falsch. Richtig ist nur, dass die Prostitutionsindustrie (inklusive aller ihrer krimineller Machenschaften) mit der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ kompatibel ist. Fraglich ist allerdings, ob sie mit der Verfassung vereinbar ist. Zumindest könnte man darüber streiten, ob sie nicht gegen deren ersten Paragraphen verstößt. Unzutreffend ist zudem, dass sie eine Parallelgesellschaft bildet. Bekanntlich berühren sich Parallelen an keinem Punkt. So werden die in einigen Stadtteilen deutscher Großstädte entstandenen islamischen Subkulturen aufgrund ihrer Abschottung gegenüber der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ zurecht als Teile einer Parallelgesellschaft bezeichnet. Hingegen hat die Prostitutionsindustrie – ganz abgesehen von der nicht zuletzt durch sie forcierten Pornographisierung der gesamten Gesellschaft – unzählige Berührungspunkte mit der ‚Mehrheitsgesellschaft‘: all die Abermillionen Freier.

Wenig überzeugend ist auch die These, wonach Prostitution und Zwangsehe der „unterschiedlichen ökonomischen Logik“ von Okzident und Orient entsprechen. In der nahöstlichen, „vom Edelmetall bestimmten Wirtschaft“ sei der Frauenkörper „Eigentum des Mannes“, argumentieren die Autorinnen. So seien im Orient große Harems und der Handel mit Sklavinnen entstanden. Das „‚umlauffähige‘ Zeichensystem Geld“ des ‚Westens‘ habe hingegen eine „Form von ’sexueller Leibeigenschaft‘“ erfordert, „die umlauffähig war und rasch wechselnde Tauschobjekte implizierte“: die Prostitution. Hiermit sei (Zwangs-) Prostitution als spezifisch westlich und Zwangsehe spezifisch östlich erwiesen. Diese theoretisierende Beweisführung ergibt allerdings nur in Maßen Sinn. Denn Freier haben zwar als ‚Besitzer‘ der (Zwangs-)Prostituierten das zeitweilige ‚Nutzungsrecht‘ über sie. Ihr ‚Eigentümer‘ bleibt jedoch ebenso wie bei der ‚Haremsdame‘, der verehelichten Orientalin oder der Sklavin auch hier stets der selbe: der Zuhälter, der einem Menschhändler einen bestimmten Betrag für die (Zwangs-)Prostituierte gezahlt (und/oder sie sich auf verschiedene Weise gefügig gemacht) hat.

Empirisch lässt sich die von den Autorinnen aufgestellte Zweiteilung in ‚westliche‘ (Zwangs-)Prostitution und ‚orientalische‘ Zwangsehe ebenfalls nicht aufrechterhalten. Denn auch in etlichen islamisch geprägten Kulturen und Ländern wie etwa dem Iran und der Türkei ist die Prostitution ebenfalls weit verbreitet. Nur wird sie hier stark tabuisiert oder aber als – oft nur für wenige Stunden abgeschlossene – Zeitehe verschleiert. Wenig plausibel mutet auch die Annahme an, ein Grund für die „Erregung“, „die Kopftuch, ‚Ehrenmord‘, ‚Zwangsehe‘ und die ‚Frau im Islam‘“ hierzulande hervorrufen, liege darin, dass der islamische Raum für westliche Freier unzugänglich sei.

Als drittes Paar stellen von Braun und Mathes die überwiegend in islamisch geprägten Kulturen praktizierten Genitalverstümmelungen und ‚westliche‘ Schönheitsoperationen nebeneinander. Zweifelsohne ist es richtig, darauf hinzuweisen, wie sehr viel schlechter es vor 100 Jahren, ja noch vor einigen Jahrzehnten auch im ‚Westen‘ um die Frauenrechte bestellt war, und dass diesbezüglich im 21. Jahrhundert nach wie vor viel zu viel zu tun ist. Auch sollte durchaus nicht vergessen werde, dass europäische Ärzte aufmüpfigen Frauen im 19. Jahrhundert gerne eine Exstirpation der Klitoris verordneten. Und wenn die Autorinnen der Empörung über weibliche Genitalverstümmelung ‚westliche‘ Schönheitsoperationen entgegenhalten, bei denen es seit einiger Zeit nicht mehr ‚nur‘ um Nasenbegradigungen oder Brustvergrößerungen, sondern auch schon mal um Schamlippenentfernung und Verengung der Vagina geht, so ist auch das nachzuvollziehen. Doch missachten sie wiederum einen nicht geringzuschätzenden Unterschied. Welchem normierenden Druck von Laufsteg- und anderen ‚Schönheits‘-role-models die Frauen hierzulande auch ausgesetzt sein mögen, so handelt es sich doch immerhin um erwachsene und somit mündige Menschen (wenngleich man zugeben muss, dass sich auch immer mehr minderjährige Mädchen von ihren Eltern die Erlaubnis erbetteln, sich unters Messer werfen zu dürfen). Das Verbrechen der Genitalverstümmlung wird hingegen an unmündigen und wehrlosen Kindern – meist noch im Säuglingsalter – begangen. Auch hat beileibe nicht jede Schönheitsoperation derart gravierende Folgen wie die Genitalverstümmelung.

Wichtiger noch als die bisherigen Gegenüberstellungen ist den Autorinnen eine andere. Sie betrifft das Kopftuch, dessen türkische Bezeichnung bekanntlich wörtlich übersetzt Schamtuch bedeutet. Nun könnte man meinen, sie würden es mit dem christlichen Symbol, dem Kreuz vergleichen. Doch tun sie das nicht, sondern beschränken sich darauf, mit der gerne verbreiteten Mär aufzuräumen, bei ihm handele es sich im Unterschied zum Kopftuch um ein unpolitisches Symbol, das, wie der evangelische Bischof Wolfgang Huber verbreitet, gar ein „Symbol des Friedens“ sei – weshalb denn wohl auch die Kreuzzüge in seinem Zeichen geführt wurden. Ebenso nachdrücklich zerpflücken von Braun und Mathes die Argumente derjenigen, die zwar moslemische Symbole wie das Kopftuch von Schulen fernhalten wollen, nicht aber christliche, wie das Kreuz oder die Nonnentracht. Doch wie gesagt stellen sie nicht die beiden religiösen Symbole einander gegenüber. Den Gegensatz ihres Interesses bilden vielmehr die Verhüllung (mittels Kopftuch, Schleier, Tschador und anderem) der ‚orientalischen‘ Frau und die ‚Entblößung‘ der ‚okzidentalen‘. Wobei sich ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf letztere richtet, da „nicht in erster Linie die Tatsache der Verschleierung der Frau erklärungsbedürftig ist, sondern viel eher die Entschleierung“. Dem muss man entgegenhalten, dass beides gleichermaßen erklärungsbedürftig ist, wie alles kulturelle eben.

„Wir“ empfänden „den Schleier“ heute nur darum als „fremd“, erklären die Autorinnen, „weil wir ihn uns ‚fremd‘ gemacht haben“, denn wir hätten aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt, dass auch in Europa über die Jahrhunderte hinweg weibliche Kopfbedeckungen üblich gewesen seien, deren „Formen“ sich „kaum vom ‚muslimischen‘ Kopftuch oder dem Schleier unterscheiden“. Mittelalterliche Kopfbedeckungen werden von den Autorinnen ebenso angeführt wie modische Kopftücher der 1950er-Jahre oder die Hüte der englischen Queen. Und überhaupt trügen Bäuerinnen „in ländlichen Gebieten Süddeutschlands“ noch heute Kopftücher.

An anderer Stelle erklären sie, die muslimische Bedeckung des weiblichen Körpers – wie etwa das Kopftuch oder der Schleier – sei „ein ‚leerer Signifikant‘“, gar der einzige, der sich als solcher „mit dem Geld messen“ könne. Das hieße, Kopftuch und Schleier können für alles mögliche stehen. Wenn dem so wäre, hätten weder die Kopftuchträgerinnen noch die ‚westlichen‘ KritikerInnen in dieser Frage die Deutungshoheit, oder in einfacheren Worten gesagt, niemand hätte im Streit um das Kopftuch recht.

Das Verständnis des Kopftuches oder des Schleiers als leerem Signifikanten scheint sich zwar nicht so ganz von der Hand weisen zu lassen, doch konzedieren selbst die Autorinnen eine Gemeinsamkeit aller „verschiedenen Bedeutungen des Schleiers“: Sie kennzeichnen seine Trägerin als „sexuelles Wesen“. Dass damit die vermeintliche Leere des Signifikanten allerdings schon (sogar mit einem ganz entscheidenden Inhalt) gefüllt ist, scheinen sie nicht zu bemerken. Zudem lässt die These des Kopftuches als leerem Signifikanten außer Acht, dass es sich bei ihm und anderen religiös begründeten Verhüllungen muslimischer Frauen nicht nur um bloße Symbole handelt, sondern oft genug um ganz materielle Instrumente der unmittelbaren Unterdrückung der jeweiligen Frau. Hinzu kommt, dass nicht allein die Form einer (Kopf-)Bedeckung entscheidend ist, sondern der Inhalt – der Symbolgehalt – der über sie transportiert wird, wobei bestimmte Formen allerdings nur bestimmte Inhalte transportieren können, oder vorsichtiger ausgedrückt: bestimmte eben nicht. Man denke nur an die Burka.

Folgt man den Autorinnen, scheint es, als gäbe es in Europa ausschließlich emanzipierte Kopftuchträgerinnen, die das muslimische Kleidungsstück gerade als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung tragen – und, ja auch um ihrer „Gegenidentität“ Ausdruck zu verleihen, die sich gegen die „Zumutungen der Mehrheitsgesellschaft“ richte. Nur ahnungslose ‚WestlerInnen‘ würden sich bei ihrem Anblick an „islamische Länder wie Iran, Saudi-Arabien oder Afghanistan“ erinnert fühlen und das Kopftuch hierzulande als Symbol der Unterdrückung missverstehen. So würden Kopftuch tragende Musliminnen „durch eben jene entmündigt, die vorgeben für ihre ‚Emanzipation‘ einzutreten“. Muslimas, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern unter das Kopftuch gezwungen werden, scheint es für die Autorinnen nicht zu geben – oder allerhöchstens in vernachlässigenswert geringer Anzahl. Da könnte sie ein Blick in Hiltrud Schröters erhellende empirische Untersuchung „Mohammeds deutsche Töchter“ allerdings leicht eines Schlechteren belehren. Doch von Braun und Mathes zufolge ist „die physische Gewalt, der man die verschleierte Muslima ausgesetzt glaubt“, nichts weiter als „ein Ausdruck jener symbolischen Gewalt […], der die entblößte Frau unterliegt“. Darüber hinaus behaupten von Braun und Mathes ebenso vage wie pauschal, es seien „heute sehr oft kopftuchtragende Frauen, die sich am deutlichsten gegen die Bevormundung durch ihre Herkunftsfamilien und frauenfeindliche Traditionen in ihrer eigenen Gesellschaft zur Wehr setzen“. Beispiele nennen sie allerdings nicht, und dem Rezensenten ist keine Kopftuchträgerin bekannt, deren Kritik an besagten frauenfeindlichen Traditionen so vehement wäre, wie die von Ayaan Hirsi Ali oder auch von Necla Kelek und Seyran Ates. Doch zu ihnen gleich.

Zwar trifft es zu, wenn die Autorinnen erklären, „die entblößte westliche Frau [erscheine] in der Gegenüberstellung mit der vermeintlich unterdrückten Kopftuchträgerin emanzipierter, als sie wirklich ist“, doch lässt sich mit mindestens ebenso viel Recht umgekehrt sagen, dass den Autorinnen die islamische Kopftuchträgerin in der Gegenüberstellung mit der vermeintlich unterdrückten ‚entblößten westlichen Frau‘ emanzipierter erscheint, als sie wirklich ist.

Nun aber noch einmal zu den drei genannten Islam-Kritikerinnen. In ihrem Nachwort beklagen die Autorinnen, dass Bücher wie Necla Keleks „Die Fremde Braut“, Ayaan Hirsi Alis „Ich klage an“und Seyran Ates‘ „Große Reise ins Feuer“„nicht nur Bestseller“ sind, sondern zu allem Übel „auch als ernsthafte Beiträge zur Diskussion über die Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft gelesen werden“. Um ihre Kritik an der angeblichen „Unhaltbarkeit der darin enthaltenen Thesen“ zu autorisieren, führen sie ausgerechnet den am 1. Februar 2006 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ veröffentlichten „Offenen Brief“ von „60 deutschen Migrationsforschern“ an, unter ihnen der ehemalige „Spex“-Redakteur und Angehörige der Gruppe Kanak Attak Mark Terkessidis und die Multikulti-Propagandistin Yasemin Karakasoglu, die das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen schon mal als „Deutsche Fatwa“ bezeichnet. Für von Braun und Mathes gilt jedoch gerade sie in Sachen Kopftuch als Autorität. Wirklich renommierte Islam-ForscherInnen, wie etwa Ursula Spuler-Stegemann, die den „offenen Brief“ als „eine einzige geballte Peinlichkeit“ kritisiert, werden von den Autorinnen hingegen nicht rezipiert.

Eine gravierende Unlauterkeit erlauben sich von Braun und Mathes gegenüber Hirsi Ali, von der sie behaupten, dass sie „in ihrem Asylantrag von 1992 fälschlicherweise angab, aus Somalia geflohen zu sein, um einer Zwangsheirat zu entgehen.“ Bekanntlich floh Hirsi Ali jedoch sehr wohl vor einer drohenden Zwangsverheiratung. Allerdings erlaubt den Autorinnen ihre fälschliche Behauptung gleich eine doppelte Unterstellung. Zum einen seien Hirsi Alis angeblich falsche Angaben „symptomatisch für ihre seither eingenommenen Positionen“, und zum zweiten stellten sie die „Erwartungen der europäischen Gesellschaft an Migrantinnen aus islamischen Ländern“ bloß. Vorwürfe, die den Autorinnen mit einigem Getöse auf die Füße fallen, legt ihre gegen Hirsi Ali erhobene Anklage doch gerade umgekehrt die Erwartungen offen, die sie selber gegenüber IslamkritikerInnen haben. Zumal, wenn diese selbst aus islamisch geprägten Kulturen stammen.

„Nur, wer beide Seiten kennt, ist zur kritischen Selbstreflexion imstande“, konstatieren von Braun und Mathes an einer anderen Stelle. Ob dem tatsächlich so ist, mag dahingestellt sein. Wer aber würde beide Seiten besser kennen als Frauen wie die drei von den Autorinnen so arg gescholtenen Islamkritikerinnen.

Abschließend sei noch eine besondere Merkwürdigkeit des vorliegenden Buches angesprochen. Zwar ist die Rolle des bösen Buben eindeutig ‚dem Westen‘ zugedacht, doch kennen die Autorinnen auch böse Frauen. Und das Merkwürdige ist nun: Es sind die Feministinnen. Genauer gesagt, die westlichen Feministinnen. Begegnen sie Muslimas, die sich als Feministinnen verstehen, geradezu unkritisch, so lassen sie keine Gelegenheit verstreichen, um den ‚westlichen‘ Feminismus zu kritisieren oder sich von ihm zu distanzieren. Sei es, dass Feministinnen bereits in den 1960er-Jahren, den „(freilich unsichtbaren) Zwang“ zur ‚Entblößung‘ verkörpernden Bikini als „Überwindung einer repressiven Sexualmoral und einengender Geschlechterbilder in Anspruch“ genommen hätten oder später als „Vorkämpferinnen einer Freiheit der Pornographie und einer Liberalisierung der Prostitutionsgesetze“ aufgetreten seien. Dass eine solche Propaganda allenfalls von einem verschwindend geringen Teil der Frauenbewegung getragen wird, während die überwiegende Zahl der Feministinnen Sexindustrie und Pornografisierung der Gesellschaft vehement kritisieren – allen voran die von den Autorinnen besonders gern gescholtene Alice Schwarzer – verschweigen von Braun und Mathes geflissentlich. Überhaupt ignorieren sie durchaus vorhandene Gemeinsamkeiten zwischen ihren eigenen und feministischen Positionen, während jeder Dissens hervorgekramt und betont wird, wobei sie kritikwürdige Minderheitenpositionen innerhalb des Feminismus auch schon mal gerne dem gesamten Feminismus anlasten.

Handelt es sich bei dem vorliegenden Buch nun also um ein Standardwerk, wie der Klappentext so dreist behauptet? Nach alldem doch wohl eher nicht.

Titelbild

Bettina Mathes / Christina von Braun: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen.
Aufbau Verlag, Berlin 2007.
476 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783351026431

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