"Am Ende trat Freud seine Zigarre auf dem Gehsteig aus"

Jed Rubenfeld versucht sich mit "Morddeutung" an einem historischen Roman zur Psychoanalyse

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Und wenn Sie als Kriminalbeamter an der Untersuchung einer Mordtat beteiligt sind, erwarten Sie dann wirklich zu finden, dass der Mörder seine Photographie samt beigefügter Adresse an dem Tatorte zurückgelassen hat, oder werden Sie sich nicht notwendigerweise mit schwächeren und undeutlicheren Spuren der gesuchten Persönlichkeit begnügen?"

Diese Frage stellt Sigmund Freud 1916 in seinen "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" und markiert damit jenen Paradigmenwechsel des "Spurenlesens", den die Kulturwissenschaften für den Beginn des 20. Jahrhunderts annehmen. Anstatt einen Zusammenhang vom Großen und Ganzen herzustellen, wird nun versucht, Erklärungen auf der Basis von Detailbeobachtungen zu finden - das gilt dem Kulturwissenschaftler Carlo Ginzbourg zufolge für die Kriminalistik, die Kriminalliteratur (Indizien), die Kunstgeschichte (Details) und eben die Psychoanalyse (Symptom). Die fruchtbare Verbindung gerade der Psychoanalyse und der Kriminalistik beziehungsweise der Kriminalliteratur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten häufig unter Beweis gestellt. Insofern ist der Versuch Jed Rubenfelds, Freud und seine Theorie in seinem Roman "Morddeutung" selbst an diesen Diskurs zu koppeln, gar nicht so weit hergeholt.

Der Roman nutzt für diese Kopplung die 1909 stattgefundene Reise Sigmund Freuds, C. G. Jungs und Sándor Ferenczis nach Amerika, wo Freud eine Vorlesungsreihe über Psychoanalyse halten sollte. Es ist ein theoriegeschichtliches Faktum, dass auf dieser Reise die Differenzen zwischen Freud und seinem "Meisterschüler" Jung begonnen haben - Differenzen, die wenige Jahre später zum vollständigen Bruch führten. Dieser Streit bildet einen der Erzählstränge des Romans, zwei andere basieren weniger strikt auf historischen Tatsachen, verwenden jedoch Bestandteile von diesen zur Entfaltung einer Erzählung: Ein renommiertes "Triumvirat" dreier Neurologen versucht Freud und seine Theorie zu verunglimpfen und die Vorlesungen zu verhindern, da man der Meinung ist, dass die Überbetonung der Sexualität in der Psychoanalyse zu einer Verwahrlosung der Sitten führen wird. Das zentrale Narrativ kreist jedoch um eine Mord- und Vergewaltigungsserie, die sich just zu dem Zeitpunkt in New York zuträgt, als sich Freud, Jung und Ferenczi dort aufhalten. Hier nun setzt der zentrale Erzählaspekt des Romans an, indem er den Gastgeber der drei, den jungen Psychoanalytiker Stratham Younger, eines der überlebenden Opfer, die 17-jährige Großbürgerstochter Nora Acton, analysieren lässt, nachdem diese infolge eines Überfalls ihre Stimme und ihr Gedächtnis verloren hat.

Im Verlauf der Ermittlungsarbeiten zur Identifikation des Serientäters und der Analyse seines Opfers beschreibt der Roman das New York des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, weicht nur in ein paar historischen und geografischen Details dort ab, wo es die Erzählung zwingend erfordert, fügt historische Persönlichkeiten (wie den Bürgermeister George McClellan oder den verurteilten Gewaltverbrecher Harry Thaw, aber auch viele andere) in die Erzählung ein und versucht sich auf diese Weise zu authentisieren. Der Widerstreit zwischen Fiktion und historischer Faktizität bleibt also die gesamte Erzählung über zentral, so zentral, dass sich Rubenfeld Strategien ersinnen muss, den Leser nicht zu sehr auf die Frage von Wirklichkeit und Möglichkeit abzulenken. Eine seiner Strategien liegt in der Beschränkung rein historischer Diskurse und Fakten auf das Notwendigste. Dies führt vor allem im Freud-Erzählstrang zu dem Eindruck, dass Rubenfeld die Psychoanalytiker zu reinen Randfiguren degradiert, um sie nicht allzu sehr fiktional verformen zu müssen. Auf der anderen Seite entwickelt sich eine Erzählung, die vor Fiktionalität beinahe birst - ein Plot, der zum Ende hin Kapriolen schlägt, Wendungen um Wendungen mit sich bringt und den über 500 Seiten geführten vermeintlichen "Whodunnit" schließlich hin in eine erklärerische Beliebigkeit führt.

Das ist umso bedauernswerter, weil die eingangs angesprochene Verschränkung von Kriminalistik und Psychoanalyse auf der Basis des Detail/Symptom/Indiz-Paradigmas vom Text durchaus geführt wird. Neue Kriminaltechniken werden vorgestellt, der Umbruch zwischen alter und neuer Ermittlungsarbeit, bedingt durch die Abnahme von Fingerabdrücken, Leichensektionen und anderen Spurenauswertungen und die Abkehr von der Neurologie und ihren Irrenhäusern hin zur Individualpsychologie kenntlich gemacht. So, wie die neuen Kriminaltechniken den Täter schließlich überführen, führt den Analytiker Younger seine Behandlung des überlebenden Opfers scheinbar ebenfalls auf die richtige Fährte. Es wäre also gleichermaßen konsequent und wünschenswert, dass diese neuen Methoden angesichts eines ebenfalls noch recht neuen Verbrechenstypus (Serienverbrechen werden als solche erst ab den 1880er-Jahren identifiziert) von Erfolg gekrönt sind. Der Verlauf der Handlung durchkreuzt derlei Wünsche jedoch recht konsequent. Mit dieser narratologischen Inkonsequenz gehen auch stilistische Probleme einher. Nicht nur ist die Sprache (der Übersetzung) recht uninteressant, der Stil streckenweise sogar ordinär, auch die Erzählhaltung verwirrt zeitweise: Es gibt zwei Erzählinstanzen und -perspektiven: einen Auktorialerzähler, der aus der zeitlichen Distanz über das damalige New York spricht und einen Ich-Erzähler, den Analytiker Younger, der als zentrale Identifikationsfigur dienen soll. Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen.

"Morddeutung" vergibt also etliche Chancen, ein gleichermaßen spannender und interessanter Roman zu sein, weil er einerseits zahlreiche Zugeständnisse an die Zeitgeschichte macht und sich deshalb ohne Not in seinen Erzählmöglichkeiten beschränkt; andererseits lässt sein stets spürbares Verlagen, "ein spannender Krimi" zu sein, es nicht zu, gerade diese Historeme (allen voran den Erzählstrang um Freud herum) weiter zu entfalten. Dass sich zwischen beiden Seiten ein Gleichgewicht finden lässt, in welchem sich beide sogar konstruktiv zu befruchten imstande sind, haben andere historische Romane seit langem bewiesen. "Morddeutung" kann seinen selbst erklärten Anspruch, Unterhaltung und Kulturgeschichte zu bieten, daher kaum erfüllen und liefert wohl auch nicht ohne Grund in seinen "Nachbemerkungen des Autors" alle notwenigen Erklärungen zu den historischen Tatsachen, die im Roman verarbeitet wurden. Es geht um das Mitraten, nicht um das Wiedererkennen.


Titelbild

Jed Rubenfeld: Morddeutung.
Herausgegeben von Tamara Rapp.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedrich Mader.
Heyne Verlag, München 2007.
528 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783453265448

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch