Es muss nicht immer Goethe sein

Barbara Schmid begibt sich auf die Spuren spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autobiografik

Von Mathis LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathis Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autobiografien stellen bis heute ein sehr beliebtes Genre dar; geht man von der Vielfalt biografischer und autobiografischer Bücher aus, die in den Buchhandlungen feilgeboten werden, dann erlebt diese Gattung gegenwärtig sogar einen ausgesprochenen Boom. Neben Prominenten jeglicher Couleur und abgewählten Ex-Kanzlern versuchen uns zahlreiche Stars und Sternchen mit ihren Lebensbetrachtungen zu beglücken. Aber auch völlig Unbekannte erreichen mit ihren Blogs ein Publikum, das nach Tausenden zählt.

Spricht man jedoch literarisch gebildete Personen an, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen beim Stichwort "Autobiografie" der Name "Goethe" als erster durch den Kopf schießt, recht wahrscheinlich - gilt doch "Dichtung und Wahrheit" bis heute nicht nur als Prototyp der Gattung, sondern auch als große Weltliteratur. Daher nimmt es nicht wunder, dass dieses Werk bis in die jüngste Vergangenheit hinein den Fluchtpunkt zumindest der germanistischen Auseinandersetzung mit dem Thema "Autobiografie" gebildet hat. Aus poststrukturalistischer Sicht mag Goethe daher als Diskursbegründer betrachtet werden, der im Reden über das Selbst lange Zeit die Maßstäbe setzte.

Es gab jedoch auch eine Autobiografik vor Goethe. Das zu zeigen, ist eines der Ziele des Buches, das Barbara Schmid nun vorgelegt hat. In "Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit" entwirft sie auf knapp zweihundert Seiten ein Panaroma des Schreibens über das Selbst zwischen 1350 und 1700. Aus einer Fülle von 670 Texten präsentiert sie jene 25, mit denen sie das Korpus repräsentativ abbilden kann. Zu diesem Zwecke stellt sie in den beiden Hauptteilen ihrer Arbeit Autobiografien städtischer und höfischer Provenienz einander gegenüber.

Den etwas befremdlichen Auftakt bildet jedoch eine Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, der - alles in allem - ein knappes Drittel des Buches füllt. Sehr ausführlich werden hier die Konzepte ausgebreitet, mit denen sich die Germanistik lange Zeit der Autobiografik näherte und die immer wieder in der Goethe'schen Selbstdarstellung gipfelten. Dies erklärt zwar, dass die germanistische Literaturwissenschaft mit älteren Autobiografien wenig anzufangen vermochte, gibt darüber hinaus aber für die Erforschung des Gegenstandes, den sich die Autorin eigentlich vorgenommen hat, wenig her. Auch kann bemängelt werden, dass die Positionen der einzelnen Forscher zwar recht ausführlich dargestellt, jedoch kaum in die Forschungslandschaft ihrer Zeit oder die geistesgeschichtlichen Hintergründe eingebettet werden. Bedauerlich ist ferner, dass neben der Darlegung des Forschungsstandes die eigene theoretische und methodische Positionierung reichlich unscharf bleibt, und die Bezüge zum internationalen Forschungsstand, dem sich auch eine germanistische Arbeit zu stellen hätte, lediglich im Anhang aufscheinen.

Während das erste Drittel der Arbeit also konzeptionell nicht recht zu überzeugen vermag, erweisen sich die anderen beiden Teile, die den eigentlichen Kern der Arbeit bilden, durchaus als nützlich. Auf den verbleibenden 120 Seiten werden insgesamt rund 25 Texte vorgestellt, so dass auf die besprochenen Werke im Durchschnitt zwei oder drei Seiten entfallen. Im ersten Teil werden zunächst Geschlechterbücher, Schreibkalender und Hausbücher, die vom städtischen Patriziat der Reichsstädte Nürnberg und Augsburg angelegt wurden, als Gattungen voneinander geschieden und anhand einzelner Beispiele vorgestellt. In diesem Zusammenhang wird stets die Biografie des Verfassers des jeweiligen Textes kurz referiert, dann der Text selbst beschrieben, bevor zum Abschluss der Adressatenkreis an die Reihe kommt. Im zweiten Abschnitt dieses Teils geht Schmid dann auf das bemerkenswerte Beispiel des Behaim-Archivs ein - bemerkenswert deshalb, weil hier für das 16. und beginnende 17. Jahrhundert eine besonders dichte Überlieferung vorliegt. In diesem Zusammenhang wird die Biografie eines jeden Autors kurz dargestellt und ein Katalog ihrer autobiografischen Schriften vorgelegt.

Der dritte Teil der Arbeit ist den "autobiographischen Schriften an den Höfen der deutschen Könige und Kaiser" gewidmet, wobei der Schwerpunkt auf der entsprechenden literarischen Produktion an den Höfen Kaiser Friedrichs III. und Kaiser Maximilians I. liegt. Die ausgewählten Textbeispiele werden nacheinander anhand eines Formulars abgearbeitet, das nach der "ersten Anlage der Schriften", "Autorschaft", "Adressaten", "Gattungsbezügen", "Intention" sowie nach "Form und Inhalt" fragt. Schmid beschließt ihr Buch mit der gegen die Forschungstradition gerichteten Spitze, dass "nicht das Ringen um Selbsterkenntnis", sondern "Status und Herrschaft" im Mittelpunkt spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autobiografik standen - einer Beobachtung, der man sich in ihrer Allgemeinheit gewiss anschließen kann. Ein ausführliches Quellen- und Namensregister sowie eine Reihe edierter Textbeispiele runden die Arbeit ab.

Schmid ist ein Buch gelungen, in dem die spezifischen Merkmale verschiedener spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Quellengattungen, die unter dem Begriff "Autobiografik" zusammengefasst werden können, gut herausgearbeitet werden. Seiner Anlage nach verleitet es jedoch nicht so sehr zum durchlesen als vielmehr zum nachschlagen. Diese Funktion erfüllt es allerdings vorzüglich und mag, nicht zuletzt wegen zahlreicher inspirierender Detaileinsichten, auch über die Germanistik hinaus als wertvolles Hilfsmittel und guter Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienen.


Titelbild

Barbara Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit.
Chronos Verlag, Zürich 2006.
256 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3034007655

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