Klavier Integral

Christoph Kammertöns und Siegfried Mauser geben lexikalische Einblicke in die Welt eines Klangkörpers

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der koreanische Video- und Performance-Künstler Nam June Paik hat Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre ein mit Alltagsgegenständen präpariertes Klavier ausgestellt und so auf eine Einbindung des Instruments in die materiale Gebrauchswelt des postindustriellen Zeitalters wie zugleich auf die damit einher gehende Entweihung eines Symbols der hohen europäischen Kunst und Kultur verwiesen. An Paiks Klavier haften jede Menge Schnüre und Drähte, ein Büstenhalter wie eine Kinderrassel sind oberhalb der Tastatur angebracht, und obenauf unter anderem ein Telefon und eine angeknipste Tischlampe, als gelte es etwas zu beleuchten.

Paik hat seine ,Komposition' "Klavier Integral" genannt, und es ist dieser Titel, der gut passt zu dem von Kammertöns und Mauser herausgegebenen Lexikon über eine Fülle von Themen rund ums Klavier. Da man ein Lexikon in den seltensten Fällen wirklich liest, vielmehr darin schmökert oder gezielt nach dem Prinzip der Auslese vorgeht, scheint sich die Frage, wie zu lesen sei, nicht zu stellen. Gleichwohl empfiehlt es sich, zunächst das Augenmerk auf den Leitartikel unter dem Stichwort ,Klavier' zu richten, der allein fünfzehn Spalten zählt, um zu erfahren, dass eine Verführung zum Schmökern nur eingeschränkt gewährt bleibt.

Wenn im Vorwort von einer "thematisch breite[n] Fächerung von Informationen und ihre[r] gleichzeitige[n] Vernetzung in Form von Verweisen" die Rede ist, dann kann man bekräftigen, dass dieses Anliegen eingelöst wurde. Gerade ausgehend vom Artikel ,Klavier' zur Entwicklungsgeschichte der besaiteten Tasteninstrumente über die Geschichte der Verbreitung der mehrstimmigen Musik, die Erfindung des Notendrucks, die Ausweitung der Plektren- und der Hammermechanik bis zur Jankó-Klaviatur und dem Digitalklavier bieten sich dem Interessenten zahlreiche links zur Baugeschichte, zur Spielpraxis, zur Klavierpädagogik und zu einzelnen Komponisten, Kompositionen wie Interpreten zur weiteren Lektüre an. Man könnte derart allegorisch von einer Klaviatur der lexikalischen Expansion sprechen, ganz im Sinne des Vorbilds von Paiks "Klavier Integral".

Der sachlich deskriptive Charakter, der die Artikel grundiert, wird zuweilen durchbrochen von einem kritischen Gestus, so etwa, wenn zum Fortwirken der mechanistischen Instrumentalpädagogik des 19. Jahrhunderts vermerkt wird: "Sie ist bis heute nicht überwunden, denn das Klavierspiel wird auch heute oft noch mechanisch, ausdrucksarm und nicht physiologisch-adäquat vermittelt." Hier, wie vereinzelt in anderen Artikeln, finden sich Ansätze zu einer kultursoziologischen Betrachtungsweise über die musikalische Prothese Klavier vor, ihren Status im Zeichen des gesellschaftlichen Wandels. Hier auch mutiert der Artikel fast zum Essay und regt zur weiteren Beschäftigung mit der Materie an.

Sämtliche Beiträge sind, wie es sich ziemt, mit hinlänglichen Literaturverweisen bespickt. Am Ende des Buches, nach einem eindrucksvollen Farbbildteil und einer Auswahlbibliografie, schließt sich noch eine hilfreiche Liste mit Adressen zum Thema Klavier im Internet an. Angesichts der Bandbreite des Materials und seiner sorgfältigen Bearbeitung sind kleine Unstimmigkeiten verzeihlich. So findet sich im Artikel über J. S. Bach ein Verweispfeil auf das Stichwort ,Transkription' nach dem man dann aber vergeblich sucht; lediglich unter dem Namen Liszts im Fließtext an entsprechender Stelle wird es erwähnt.

Dass der Eintrag zum Synthesizer ausschließlich auf den Jazz bezogen ist, Pop und Rock ausspart, mag man bedauern. Immerhin haben Tastenspezialisten wie Keith Emerson, Rick Wakeman oder Walter/Wendy Carlos die Szene des Keyboard-Sounds in den 1970er-Jahren nachhaltig geprägt, auch wenn ihr Stern mittlerweile gesunken ist. Überhaupt fällt eine Vernachlässigung des Rock- und Popspektrums ins Gewicht; der Jazz, dem sogar ein gesonderter Artikel gewidmet ist, nimmt dagegen einen erfreulich breiten Raum ein. Gewiss kann man darüber streiten, warum die Herausgeber diesen oder jenen Namen eines Komponisten oder Pianisten nicht in ihr Repertoire aufgenommen haben und andere dafür vertreten sind. Bei den Namen Hans Otte und Emmanuel Nunes wird man genau so wenig fündig wie bei denen von Claude Helffer, Jean-Bernard Pommier oder Werner Haas. Hingegen sind Nina Simone, die doch mehr als Sängerin denn als Pianistin hervorgetreten ist, und die aktuellen Jungstars Lang Lang und Yundi Li mit einem Eintrag gewürdigt. Manchmal bleiben musikkritische Wertungen zur Interpretationskunst eines Pianisten nicht aus, beispielsweise zu Friedrich Guldas zwiespältigen Einspielungen der Beethoven-Sonaten, über die man geteilter Meinung sein kann. Was indes ein "gemeißelt männlicher Anschlag" sein soll, der Arthur Rubinstein bescheinigt wird, mag im Dunkeln bleiben. Alles in Allem ist das Lexikon des Klaviers, das ja keine Enzyklopädie sein kann, ein überaus nützliches Nachschlagewerk, das gerade dem Laien und Musikliebhaber einen tieferen Einblick verschafft in die wunderbare Welt des Tastenzaubers.


Titelbild

Christoph Kammertöns / Siegfried Mauser (Hg.): Lexikon des Klaviers. Baugeschichte, Spielpraxis, Komponisten und ihre Werke, Interpreten.
Vorwort von Daniel Barenboin.
Laaber Verlag, Laaber 2006.
806 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3890075436
ISBN-13: 9783890075433

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