Ikonenumbau

Hiltrud Häntzschel gibt Marieluise Fleißer ein neues Profil

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die ältere Generation war sie eine Ikone, eine Negativikone sicherlich, aber trotzdem. Die Ingolstädterin Marieluise Fleißer geriet nach ihrer vielfach missverstandenen Erzählung "Avantgarde" und nach ihrer Wiederentdeckung zu Beginn der 1970er-Jahre zum Exempel bevormundeter, unterdrückter und verdrängter weiblicher Kreativität in einer männlich besetzten Avantgarde. Wie konnte es sein, dass eine Frau von solch überwältigender literarischer Originalität zuerst in die Fänge von Bertolt Brecht und dann in die eines Hellmut Draws-Tychsen geriet, um dann in der Ehe mit dem Tabakwarenhändler Sepp Haindl zu verkümmern?

Die beiden Dramen "Fegefeuer in Ingolstadt" und "Pioniere in Ingolstadt" haben Fleißer in den 1920er-Jahren Skandal und Aufmerksamkeit eingebracht, sie sind es auch, die ihre Wertschätzung bei den jungen Dramatikern der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre begründeten, bei Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder und Martin Sperr. Es sind aber weniger ihre Stücke als ihre Erzählungen und der Roman, die Fleißers Rang heute ausmachen: Die "Mehlreisende Frieda Geier", 1931 erschienen, ist ein sprachliches und erzählerisches Erlebnis. Dabei handelt es sich eigentlich nur um die Liebesgeschichte zwischen einer selbständigen jungen Frau mit männlichen Kleidungsgewohnheiten und einem der ortsansässigen jungen Mann, dessen Leben sich zwischen Schwimmtraining und Zigarrenladen bewegt. Einen "Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen" hat Fleißer die "Mehlreisende" genannt. Und sie darf bis heute zu den eindrucksvollsten und lesenswerten Texten ihrer Zeit gelten.

Selbst die Umarbeitung für die Gesamtausgabe 1972, unter dem Titel "Eine Zierde für den Verein" erschienen, hat dem Buch kaum geschadet. Allerdings hat die zweite Fassung zu allerhand Merkwürdigkeiten unter Literaturwissenschaftlern geführt, musste sie doch, gerade was die 1972 nachgereichten Passagen angeht, dafür herhalten, Fleißers angebliche sensible Warnung vor dem nahenden Nationalsozialismus zu beweisen. Unter dieser Perspektive geriet sogar der Schwimmverein, in dem der anerkannte Schwimmfachmann Gustl seine Junggesellenfreizeit verbringt, zum Vorboten faschistischer Horden, was dem Deutschen Sportbund ("Im Verein ist Sport immer noch am schönsten") sicher nicht gefallen haben wird (wenn dort je jemand den Roman wahrgenommen haben sollte).

Auch die Erzählungen gehören zu den Glanzstücken deutschsprachiger Erzählkunst. Zwei Bände hat Fleißer noch vor 1933 herausgebracht, "Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten der Marieluise Fleißer aus Ingolstadt" (1929) und "Andorranische Abenteuer" (1932). Während jedoch der erste Band bei Suhrkamp zahlreiche Nachauflagen erlebte, wurden die "Andorranischen Abenteuer" auseinander gerissen und sind nur noch in den "Gesammelten Werke" zu finden. Dabei hätten beide Bände Leser verdient, und das in großer Zahl. Denn Fleißers Texte leben nicht nur von ihrer ungeheuren Gabe zu beobachten und das Beobachtete in eine ungewöhnliche Sprache zu übersetzen. Sie sind zudem von einer unglaublichen Komik. Vor allem die Draws-Geschichten, über deren kathartische Funktion für die Autorin man ruhig spekulieren darf, sind ein wunderbares Dokument fehllaufender männlicher Eitelkeit. Der wirkliche Draws wird wohl ein ziemliches Ekel gewesen sein, in seiner literarischen Fassung ist er ein eitler Gockel, der die Welt kommandieren will und dabei nur vom Regen in die Traufe gerät. Kann man so jemanden ernst nehmen? Hat die Erzählerin ihn ernst genommen? Was Frau Fleißer an dem Original gefunden hat, bleibt wohl ein Rätsel. Aber wo die Liebe hinfällt, wächst bekanntlich kein Gras mehr.

Hiltrud Häntzschel nun bemüht sich um eine Generalkorrektur des Fleißer-Bildes. Dafür hat sie sich nicht nur durch alle erreichbaren Publikationen Fleißers und ihrer Umgebung gewühlt, sondern ist auch in den Nachlass Fleißers gestiegen und hat anscheinend jedes dort auffindbare Blatt aufgehoben und umgewendet. Häntzschel weist zudem seit Jahren darauf hin, dass Fleißer in ihren Nachkriegsjahren intensiv an ihrem Bild in der Öffentlichkeit und an dem ihrer Weggefährten gestrickt hat. Nichts, so lässt sich auch ihrer Fleißer-Biografie entnehmen, kann man ungeprüft so nehmen, wie es im Nachhinein von Fleißer erzählt worden ist. Fleißer selbst hat ja immer wieder darauf hingewiesen, dass insbesondere "Avantgarde" ein Erzähltext und kein Bericht ist. Nur hören wollte es nicht wirklich jemand.

Hier setzt Häntzschel auch in diesem Band an und führt ihre Aufklärungsarbeit am Leben und Werk Fleißers mit großem Elan fort. Sie wolle, schreibt sie, Fleißer aus ihrer Opferrolle befreien und sie wieder zur handelnden Person machen. Also Befreiung aus den Ketten vor allem Brechts und Draws und Haindls? Das soll recht sein.

Allerdings führt das vor allem in Sachen Brecht zu einer merkwürdigen Unschärfe. Sein Einfluss auf und seine Nähe zu Fleißer wird kaum noch fassbar. Dass beide womöglich ein kurzzeitiges Liebesverhältnis miteinander hatten, wird immerhin vermutet. Weshalb aber Fleißer in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren Brecht derart vehement abgelehnt hat, ja anscheinend gehasst hat, bleibt unklar. Abneigung aufgrund zurückgewiesener Liebe? Womöglich. Dann hätte die kurze Liaison lang anhaltende Folgen gehabt. Auch das passiert. Auf Gegenseitigkeit beruhte die Abneigung jedenfalls nicht. Brecht hat sich noch in der Weimarer Republik immer wieder für Fleißer verwendet, auch als sie bereits mit Draws liiert war und sich als Promoterin des bedenklich untalentierten Autors betätigte. Ob er dabei stets das richtige Händchen hatte, darf bezweifelt werden. Die Brecht-Factory hatte eben auch zu funktionieren.

Den Einfluss Brechts auf Fleißers Werk, insbesondere auf das zweite Stück weist Häntzschel mit dem Hinweis zurück, dass die "Pioniere von Ingolstadt" keineswegs ein Auftragswerk Brechts gewesen sei. Das aber haben auch die bisher vorliegenden Quellen nicht wirklich hergegeben. Dass er in die Inszenierungen beider Stücke eingegriffen hat, wird auch von Häntzschel nicht bestritten. Aber was den Text angeht?

Häntzschel betont, dass der Abschluss der "Pioniere" in das Jahr 1926 gefallen sei (mit Verweis auf einen Vertrag mit Ullstein und mit den Münchener Kammerspielen). In einer anderen Publikation kommentiert sie gar dezidiert: "fern von Brecht und ohne ihn".

Nun ist gerade dieses Stück immer wieder überarbeitet worden, wie die verschiedenen Fassungen zeigen. Auch später hat sich Fleißer mit ihm nicht wirklich arrangieren können. Insbesondere hat sie auch später noch, zwischen der ersten wenig aufsehenerregenden Dresdner Inszenierung Anfang 1928 bis zur skandalösen, von Brecht mitverantworteten Berliner Aufführung im Jahr 1929, an dem Stück gearbeitet, wie auch die Biografin zugesteht. Insofern ist das Stück vielleicht Ende 1926 fertig gewesen, aber es genügte wohl auch nicht Fleißers eigenen Ansprüchen.

Auch berichtet Häntzschel sogar selbst von Augsburger Treffen Brechts und Fleißers im Sommer 1926. Denkbar ist also, dass sich Brecht und Fleißer doch in der Art über das Schreiben von Dramen unterhalten haben, wie sich die Autorin später erinnerte (im übrigen nicht in einem ihrer literarisierten Texte, sondern im Kommentar zur Werkausgabe): Das Stück selber müsse gar keine Handlung haben, habe Brecht angeregt, "es muß zusammengebastelt sein, wie gewisse Autos, die man in Paris herumfahren sieht, Autos im Eigenbau aus Teilen, die sich der Bastler zufällig zusammenholen konnte, es fahrt halt, es fahrt!"

Zurechtgestutzte Erinnerung? Möglich, wer will sich auch noch nach über 45 Jahren noch korrekt erinnern zumal jemand, dessen Erinnerungen von Lektüren und späteren Kurskorrekturen derart bestimmt sind wie die Fleißers? Wie dem auch sei, selbst die Quellenlage lässt anscheinend doch mehr Interpretationsspielraum, als Häntzschel einzuräumen bereit ist.

Nun ist es das gute Recht Häntzschels, aus den ihr vorliegenden Informationen die von ihr verantwortbaren Schlüsse zu ziehen. Auch ist ihre Grundthese, Fleißer zu neuer Selbständigkeit zu verhelfen, dem Opferprofil zweifelsohne vorzuziehen. Diese neue Fleißerbiografie besticht ja gerade dadurch, dass sie offen an ihren Gegenstand herantritt. Dass aber keine Biografie ohne eine These zu Leben und Werk überhaupt zu schreiben ist, bleibt davon unbenommen. Soll heißen, über Häntzschels These wird man diskutieren können. Sie gibt jedenfalls dazu eine Reihe von Anregungen, denen zu folgen sich lohnt. Und sie zeigt die Lücken, die zu füllen sich gleichfalls lohnen würde.

Zum Beispiel im Fall des Romans "Mehlreisende Frieda Geier": Die Entstehungsgeschichte des Textes bleibt nämlich auch in Häntzschels Bericht einigermaßen offen. Verlag und Autorin schließen im Dezember 1930 den Vertrag über den Roman, der bereits Ende Mai 1931 abgegeben werden muss. Im Herbst aber sitzt sie immer noch am Schluss, trotzdem erscheint der Roman noch im November 1931. Soweit die Rahmendaten. Aber: Woher kommt dieser Text, woher das Konzept, wann findet sie die Zeit dazu, ihn zu schreiben, welche Vorstufen gibt es? Fragen, die auch jetzt noch nicht beantwortet werden können, denn offensichtlich gibt der Nachlass dazu nichts Berichtenswertes her. Und Häntzschel ist als seriöse und sorgfältige Arbeiterin bekannt genug, dass ihr hier jeder Vertrauensvorschuss gebührt. Wie aber kann ein solch sprachgewaltiges Exempel eines fortgeschrittenen neusachlichen, enorm komplexen Schreibstils, wie Helmut Lethen den Roman gepriesen hat, unter dem Einfluss eines Draws überhaupt entstehen?


Titelbild

Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
412 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458173243

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