Ein anderes Wort für Sehnsucht

Arnold Stadler schickt in seinem Roman "Komm, gehen wir!" drei junge Menschen in Liebeswirren

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder die Sehnsucht! Dieses ernste, unhintergehbare Ziehen, dieses irrationale Ausbalancieren von Hoffnung und Leid. Hätte Arnold Stadler nicht schon ein früheres Werk "Sehnsucht" getauft, seinem neuen Roman stünde der Titel auch ganz gut. Kaum ein anderer Autor gibt dem krankhaft-menschlichen Sehnen nach der Liebe eine übermütig-wehmütigere Sprache als der 1954 geborene Büchner-Preisträger Stadler. Einzelne seiner mitunter komischen Sätze, in denen sich das Verlangen wie ein Schmerz zusammenzieht, bringen die Banalität auf den Punkt und sind zugleich ein homöopathisches Heilmittel gegen das Scheitern. "Die Liebe hatte sich als Warten auf die Liebe herausgestellt und als ein Heimweh nach ihr." Oder: "Der Tod führt ein ganz undemokratisches Terrorregime. So wie die Liebe auch."

Und dennoch - sonst gäbe es keine Literatur - wäre das Leben nichts wert gewesen, ohne Träume, "ja sie waren Bedingung der Möglichkeit eines richtigen Lebens." Ein solcher Traum beginnt 1978 auf Capri: Rosemarie und Roland, junge Studenten aus Freiburg, die nicht nur italienischen Häfen, sondern auch dem Hafen der Ehe entgegensteuern, sind "zum Braunwerden" an den Ort gekommen, der irgendwann ganz mit einem kitschigen Schlager eins wurde. Eine vorgezogene Hochzeitsreise. Und dann ist doch alles anders, wird alles kompliziert: Ein junger Mann namens Jim bittet das Paar um einen Schluck Wasser, setzt sich aufs ausgebreitete Badetuch, "das doch nur ein Lappen war". Rutscht immer näher. Blicke begegnen sich, und Augenblicke später ist man schon nicht mehr zu zweit in der Welt. "Komm, gehen wir", sagt Jim, kurz bevor die Sonne im Meer verschwindet. Die Liebesdinge nehmen ihren unaufhaltsamen Lauf, und Stadlers Roman kommt zu seinem Titel: "Komm, gehen wir", ein Imperativ, der sich leitmotivisch durchs Buch schlängelt. "Gehen wir" - ein anderes Wort für Sehnsucht.

In dieser ersten Nacht im Hotel geschieht zwischen den Dreien noch nichts, "nur dass ihr Gelächter nun in die Liebe überging". Die Liebe kennt keine Geschlechtergrenzen. Jim, der gut aussehende, italienischstämmige Amerikaner, zieht beide an. Für Rosemarie und Roland blitzt mit Jims Erscheinen und seiner Erscheinung ein anderes Leben auf - hin zu anderen und zum anderen Ufer, raus aus den vorgegebenen Bahnen, raus aus der "Schwarzwaldtannenschwermut", raus aus der provinziellen Herkunft. Die wird dann in großen Abschweifungskapiteln ausführlich beschrieben. Alle drei Liebeshelden bekommen von Stadler eine Geschichte und eine Familie aufgebürdet. Auch wenn die Erzählung hier viele Seitenwege einschlägt, in ein Plappern verfällt, teilweise sogar mutwillig in die Länge gestreckt wirkt, stolpert man doch über schöne Stadler'sche Beobachtungs-Funde.

Im Mikrokosmos, da, wo das Leben ganz verdichtet ist, entdeckt man die Prinzipien der ganzen Welt. In Nebensätzen werden Biografien ins grammatikalische Abseits geschickt. Kurz angerissen und dann aus der Geschichte verbannt. Oder auf ihr Wesentliches heruntergebrochen dargestellt. Da ist zum Beispiel Rolands toter Onkel Otto. Nach seinem Ableben findet man in seiner Brieftasche ein Foto von Tante Erika, "die ja gar keine Tante war, und im Übrigen rothaarig dalag, dazu pudelnackt". Der Tod ist der Ordnung beziehungsweise Vernichtung des Nachlasses zuvorgekommen: Im Normalfall werden solche Bilder rechtzeitig verbrannt, die wenigen Geheimnisse mit ins Grab genommen, um ein anständiges Andenken zu gewährleisten.

Aber die Geschichte Rolands fängt ja erst auf Capri an. Kurz und gut: Die drei Verliebten laufen gerade noch mit den "Come-let's-go-Gesichtern" herum, und dann heißt es schon "let's get lost". Rosemarie und Jim, Jim und Roland, Roland und Rosemarie. Konstellationen, die noch kein Glück, Augenblicke, die noch kein Leben machen. Noch keine Liebe. Rosemarie wird schwanger, vermutlich von Jim. Aber Jim, das merkt sie noch früh genug, ist nicht der richtige für so ein Familienprojekt: Er, der einem Pasolini-Film entsprungen zu sein scheint und nicht umsonst im selben Jahr wie Thomas Manns Romanfragment "Felix Krull" das Licht der Welt erblickt hat, hat mehr mit der eigenen Fantasie als mit der Wirklichkeit zu tun. Die muss gemeistert werden, da hilft keine Kunst. Oder doch?

Roland hilft die Kunst. Er wird, Jahre später, zum Autor. "Aber hatte er das Buch nicht wegen dieser Geschichte geschrieben? War er nicht ihretwegen und seinetwegen Schriftsteller geworden, weil er auf diese Weise festhalten wollte, was nicht festzuhalten war? Wollte er etwas anderes als auf diese Weise die Liebe aufheben? Eine Art Poesiealbum für Erwachsene, geschult in der Sehnsucht nach der Zukunft, die hinter ihnen lag? Nun ja, nun gut."

Die Sehnsucht wird nur noch auf kleiner Flamme gekocht. Jim und Roland bleiben in Kontakt - die beiden schreiben sich Briefe, auch dann noch, als sie längst in soliden Ehe- oder zumindest "normalen" Verhältnissen stecken. "Vielleicht war es doch leichter, einen Liebesroman zu schreiben als zu leben", heißt es einmal. Und tatsächlich: Was uns erzählt wird, hat schon die Perspektive eines melancholischen Rückblicks. Auf die eigene Jugend, auf die 1970er-Jahre, auf eine Phase, in der alles möglich scheint, obwohl in den Momenten der Euphorie das Flüchtige bereits angelegt ist. Stadlers Erzähler, das irritiert zunächst, hat einen ganz heutigen Blick auf die Vergangenheit: Er misst die verlorene Zeit an der Gegenwart; das Jetzt sieht die Jugendzeit so, als sei sie schon damals verschattet gewesen vom Gedanken ans Alter. Die Vergänglichkeit sitzt den drei Sehnsuchtsmenschen von Anfang an in den Knochen.

Wer sich eine kohärente, einfach dahinerzählte Geschichte wünscht, muss seine Nase in andere Bücher stecken. Hier bekommt man den zwischen Verzweiflung und Kalauer schwankenden Stadler-Ton, der auch ein Walser-Ton ist (Martin und Robert), nur etwas katholischer. Also existenzieller, direkter, manchmal platter. Auch in der Todesachtung und Todesverachtung viel gläubiger. Was in den früheren Büchern Stadlers ein Mittel zur Weltaneignung war, das Stocken und Stolpern, das Ausweichen und Weit-Ausgreifen, das bitter-heitere Sprechen, ist jetzt eine Art Manier. Aber was für eine schöne dann doch. Eine traurige, trostreich vertraute.


Titelbild

Arnold Stadler: Komm, gehen wir. Eine Liebesgeschichte. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
360 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100751270

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