Doziertes Wissen statt erzählerischer Anmut

Wolfgang Schlüters Opernroman "Anmut und Gnade" informiert über Jean-Philippe Rameau und moderne Musikproduktionsbedingungen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer gerne musikkritische Feuilletons oder musikhistorische Sachbücher liest, wird mit Wolfgang Schlüters Roman "Anmut und Gnade" schöne Stunden verbringen. Wer von einem Roman hingegen Einblicke in das vielschichtige Seelenleben von (erfundenen) Personen erwartet, spannende Handlungsabläufe oder plausible Gesellschaftspanoramen, der wird mit dieser belehrenden Collage aus Oper und Politik wohl nicht recht glücklich werden. Worum geht es in diesem, wie immer schön gestalteten, Buch der "Anderen Bibliothek"?

Ein österreichisches Ensemble für Alte Musik probt in Paris Jean-Philippe Rameaus "Opéra Ballet" "Les Indes Galantes". Der Pressesprecher des "Ensembles Les Encyclopédistes", der 43jährige Betriebswirtschaftler und Musikliebhaber Walter Mardtner, ist zugleich der Erzähler des Romans. Mittels einer etwas bemühten Manuskript-Fiktion berichtet diese blass bleibende Erzählerfigur zugleich von den musikalischen und politischen Diskursen der Entstehungszeit von Rameaus Opern. Ein verschroben sympathischer Händler antiquarischer Bücher versorgt den Erzähler nämlich mit einem Konvolut aus Briefen und Texten, die das musikalische und gesellschaftliche Leben der 1730er- bis 1760er-Jahre dokumentieren. Diese teils erfundenen, teils offenbar realen Zeugnisse aus dem Umkreis der Enzyklopädisten illustrieren neben politischen Disputen besonders den ästhetischen Streit zwischen Ramisten und Lullyisten über den Vorrang von Wort oder Musik und Harmoniekunst in der Oper.

Die überzeugendste Figur dieses Musiker-Romans ist die des Dirigenten Erlmayr, der überdeutlich nach dem Bilde des Alte-Musik-Pioniers Nikolaus Harnoncourt gezeichnet ist. Zwar bleiben die amourösen Verstrickungen des Dirigenten wie auch die anderen unbedeutenden Intrigen oder Zänkereien im Orchester nur blasses Rankenwerk am Rande dieses nicht eben handlungssatten Romans. Doch bilden die musikhistorischen Ansprachen des "Erlkönig" genannten Orchesterleiters prägnante Höhepunkte des Buches. Wolfgang Schlüter zeigt sich hier als ein musikalisch höchst gebildeter Kenner der Opernästhetik des 18. Jahrhunderts. Und darüber hinaus auch noch als ein begabter Stimmenimitator, der den freundlich flapsigen Redegestus des österreichischen Dirigenten wunderbar plastisch trifft. Das restliche Personal dieses Musikromans bleibt hingegen unterbelichtet.

Die poetischen und ästhetischen Aufführungsanweisungen des Orchesterleiters evozieren in ihrer geradezu handgreiflich anschaulichen Sprache das musikalische Geschehen und seine historischen Kontexte auf's Lebendigste. Leider kann man dies nicht für die Erzählerstimme selbst behaupten, die auf weiten Strecken manieriert gespickt ist mit Gallizismen und Patina vortäuscht durch altdeutsche Schreibweisen. Neben der altbackenen Manuskriptfund-Fiktion bedient sich Schlüter mit diesen sprachlichen Verfremdungen eines zweiten Stilmittels des historischen Romans, das freilich meist eher gekünstelt als kunstvoll wirkt.

Da die Berichte und Diskurscollagen von der heutigen Einstudierung einer alten Ballett-Oper nebst der damaligen Debatten über die Gattung allzu wenig Plot verheißen, verfällt der Romanautor auf die Idee, durch die Rahmung des Musiktheaters mit Szenen politischer Gewalt eine Extraportion Action beizufügen. Auf der durch das Manuskriptkonvolut herbei referierten historischen Ebene geht es um einen Plan zur Ermordung des französischen Königs bei der (schließlich abgesagten) Uraufführung dieser Oper. Im Opernhaus sollte er - da er an diesem Ort der Kunst und Rührung durch die Leibgarde kaum abschirmbar war - zum Anschlagsziel von Republikanern werden, die als Bühnenarbeiter in seine Nähe vorstoßen könnten. Auf der heutigen Ebene der Neuproduktion der "Indes Galantes" für die CD und die Pariser Oper verknüpft der Roman die Pariser Vorstadt-Unruhen und den Mohammed-Karikaturenstreit mit der Premiere der Oper. Aufgebrachte Immigrantenkinder zünden Barrikaden an und attackieren den Erzähler auf dem Weg zur Premiere. Diese - bemühte - Verknüpfung von Oper und politischer Gewalt gibt dem Autor Gelegenheit zu einem essayistischen Vortrag über die Segnungen der Aufklärung damals wie heute und zu einer Kritik am Fundamentalismus. Ähnlich wohlfeile wie wohlmeinende Meinungspräsentationen über Ästhetik, Politik oder Regietheater kennzeichnen den Erzähler, etwa wenn er über die schlimmen Arbeitsbedingungen von eigentlich hoch qualifizierten Musikjournalisten klagt oder wenn am Ende die forciert provokative Bühneninszenierung der "Indes Galantes" mit nackten und totalrasierten Choristen gegen die Schönheiten der Musik ausgespielt werden.

Zweifellos lernt der Leser bei der Lektüre einiges über die Musik Rameaus, die trotz der Ausgrabungen, Aufführungen und Neueinspielungen Harnoncourts und William Christies gerade in Deutschland immer noch wenig Prominenz genießt. Die so gelehrten wie enthusiastischen Musikerreden des Buches wirken in ihrer ansteckenden Begeisterung durchaus als überzeugende Didaxe. Befremdlich hingegen bleiben die Mittel, mit denen der Autor sein Sachbuch über musikalische Kompositionsbedingungen damals und Aufführungsbedingungen heute in eine spannende Narration zu verwandeln versucht: Der knallige Flugzeugabsturz am Anfang, der das Musikerensemble mit Ausnahme des ängstlich bahnreisenden Pressesprechers und Erzählers auslöscht, wirkt gewollt dramatisierend. Der Schluss, die Himmelfahrt der Fluggäste samt engelsgesegnetem Eintritt nach Zion hingegen wirkt kitschiger, als es die durchaus überladene Hofkunst Rameaus verdient hätte. Trotzdem: ein lesenswertes Buch über die Oper als Handwerk wie als Kunst der Leidenschaften und der ästhetischen Überwältigung im 18. wie im 21. Jahrhundert.


Titelbild

Wolfgang Schlüter: Anmut und Gnade.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
350 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783821845845

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