Romane als fehlender Rest

Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Jürgen Becker

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

"Sie lesen nur Mitteilungen aus meinem Erfahrungsbereich; das ist die Stadt, mein tägliches Leben, die Straße, die Erinnerung. All das reflektiere ich in einer jeweils veränderten Sprechweise", schrieb Jürgen Becker 1964 über seinen Prosaband "Felder" in einem Brief an Hans Magnus Enzensberger. An dieser dichterischen Maxime Beckers, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 war, hat sich bis heute nichts geändert. Neben Verlagstätigkeiten bei Rowohlt und Suhrkamp und als Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk hat der gebürtige Kölner sich vor allem als Lyriker und Hörspielautor einen Namen gemacht.

Seit mehr als 25 Jahren lebt Jürgen Becker in einem 200 Jahre alten Fachwerkhaus in Odenthal am Randes des Bergischen Landes, wo er heute seinen 75. Geburtstag feiert. Ein idyllischer Rückzugspunkt, der viele Jahre einen Gegenpol zu seiner Arbeit im Hochhaus des Deutschlandfunks in Köln bildete und gleichzeitig Erinnerungen an die Kindheit bei seinen Großeltern im Bergischen wach hält. Kein Wunder, dass einer von Beckers schönsten Lyrikbänden den Titel "Odenthals Küste" (1986) trägt.

"Ich wäre gern Maler geworden, hätte ich nur die Begabung gehabt", erklärte Becker jüngst in einem Interview. Die Malerei ist dem Autor dennoch sehr nahe, denn seit über 40 Jahren ist Jürgen Becker mit der renommierten Künstlerin Rango Bohne verheiratet.

Die letzten Jahre bilden noch einmal eine künstlerische Zäsur in Beckers Werk. Über Jahrzehnte hatte der Heinrich-Böll-Preisträger die Lyrik und das Hörspiel favorisiert und offensichtlich sein erzählerisches Talent verkannt. Vor zehn Jahren erschien der glänzende Prosaband "Der fehlende Rest". Die schmale Erzählung las sich wie ein Werkstattbericht aus dem Hinterkopf eines hochsensiblen Lyrikers, der uns Einblicke darüber gewährt, wie ein Gedanke den Weg aufs Papier findet. Und der Titel könnte aus zwei Gründen durchaus programmatischen Charakter haben - als sinnstiftende Ergänzung zu Jürgen Beckers Lyrik oder aber als spätentdeckte Liebe zur Prosa.

1999 bewies Becker mit seinem ersten Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" endgültig, dass er auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung entsteht ein aus vielen Episoden zusammen gefügtes Panorama der Disharmonien im Nachwendedeutschland. Darin heißt es: "In vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen." Beckers schmerzlicher Befund, den er seiner autobiografisch gefärbten Hauptfigur Jörn Winter (auch Protagonist in "Der fehlende Rest" und im letzten Band "Die folgenden Seiten", 2006) in den Mund legt.

Heute wissen wir: "Der fehlende Rest" - bezogen auf Jürgen Beckers umfangreiches Oeuvre - waren die späten Romane, diese sprachlich hochsensiblen Reflexionen eines Autors, der stets seine eigene Erfahrungswelt zum literarischen Sujet gemacht hat. In "Schnee in den Ardennen" (2003) hockt die Hauptfigur in der Dachkammer eines abgelegenen Gehöfts und berichtet von ihren Imaginationen.

Die Grenzen von Lyrik und Prosa lässt Jürgen Becker, der im letzten Jahr mit dem Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet wurde, dabei (wie schon in den Vorgängerwerken) gekonnt verschwimmen.-