Für eine "Neurobiologie der Schule"

Joachim Bauer tritt neuerdings als Vermittler zwischen den Welten unseres Bildungswesens auf

Von Alexander GröschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Gröschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Anliegen ist klar: Aufklären will er. Schüler, Elter, Lehrer und eben alle denjenigen unter uns, die "das System Schule fördern wollen, lebensnahe Hinweise geben, wie der Nährboden aussehen muss, auf dem Liebe zum Leben, Motivation und die Lust am Lernen wachsen können". Bauers Quelle ist offensichtlich: die Neurobiologie. Dass dieses neue, zarte, lobenswürdige Pflänzchen - um im Bild zu bleiben - für eine Neuorientierung im Bildungswesen jedoch mehr braucht als gute Ratschläge auf Basis reger Zeitungslektüre, wird allerdings schnell deutlich. Doch der Reihe nach.

Anstoß des neuen Buches vom Spiegelneurone-Experten Bauer, der mit "Warum ich fühle, was du fühlst" (2005) und den beiden Gen-erklärenden Werken "Das Gedächtnis des Körpers" (2004) und "Prinzip Menschlichkeit" (2006) bereits in demselben neurobiologischen Fahrwasser ruderte, ist seine Kritik an Bernhard Buebs "Lob der Disziplin" (2006). Darin, so Bauer, wird es dabei belassen, von Kindern mehr "Respekt" und für Eltern und Pädagogen mehr "Autorität" zu fordern, jedoch "ohne zu sagen, auf welchen Voraussetzungen Respekt und Autorität gründen". Diese Grundlagen möchte Bauer liefern.

In sieben Kapiteln widmet er sich zunächst allgemein den "Treibhäusern der Zukunft" - Perspektiven für das Gelingen und Gründen für das Misslingen von Schulen in Deutschland - sowie anschließend Lehrern, ihrer Ausbildung und Eltern. Die letzten beiden Kapitel widmet Bauer der Bildungspolitik, Wissenschaft und einem resümierenden, Rat gebenden Schlusswort.

Zunächst bemüht Bauer in seiner Argumentation - wie vielerorts - das beharrlich fortbestehende Desaster großer Teile des deutschen Schulsystems und klagt vor allem die Ungerechtigkeit gegenüber bildungsfernen Schichten an. Dabei konstatiert er: "Bei diesen jungen Leuten [...] sind die zehn oder mehr Jahre ihrer Schulzeit abgetropft wie Wasser an einer Teflonschicht". Das ist noch mehr als in Ordnung, denn es ist richtig. Nicht mehr nachvollziehen kann man im gleichen Kapitel hingegen die Polemik eines Satzes wie: "Viele Schulversager wären in der Lage, an der Spielekonsole eines Computers jeden PISA-Test mit Bravour zu bestehen, vorausgesetzt, es gäbe einen PISA-Test für Killerspiele". Das ist einfach zuviel des Guten und gleichsam zu einfach. Und genau darin besteht das Problem des Buches: es ist ambivalent.

Nun muss Ambivalenz grundsätzlich für ein Buch nicht schlecht sein. Doch im vorliegenden Fall wirkt sie teilweise störend, denn als interessierter Leser möchte man viele Aspekte von Bauers Aussagen ernst nehmen. Dazu gehören klare reformpädagogische Stellungnahmen wie: Kinder seien "keine Aktenordner" und Schulen als Lebensraum dazu da, Beziehungen der Beteiligten zu fördern. Das liest man gerne, denn es ist deutlich, dass das hiesige Schulsystem - sowie große Teile der Bildungsadministration und Bildungsforschung - noch viel zu stark "unterrichtslastig" als vielmehr "beziehungsorientiert" ausgerichtet sind.

Das Verdienst des neurobiologischen Ansatzes von Bauer besteht genau in letzterer Erkenntnis. Er macht immer wieder deutlich: "Alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen". Wir Menschen sind "Beziehungstiere", deren Erfahrungen und Erlebnisse alle vom Gehirn in biologische Signale verwandelt werden. Dadurch wirkt es sich auf die Biologie und Leistungsfähigkeit unseres Körpers aus und beeinflusst unser Verhalten sowie die nachfolgenden Beziehungen. Damit wir Motivation - auch zum Lernen - haben und Lust an Leistung, ist dreierlei grundlegend: "das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden".

Als Elixier der Veränderung greift Bauer das psychologische Motiv des Lernens am Modell auf und macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche ihre Potenziale in den Spiegelungen der Erwachsenen erkennen. Bedeutsam an den Beziehungen zwischen den beiden Gruppen ist also, dass es zu Resonanz kommt - Rückmeldungen, die positiv wie negativ ausbalanciert sein sollten, damit Entwicklungsmöglichkeiten bestehen bleiben. "Um das Kind zu den langen Durststrecken der Unlust auf dem Weg zu Bildungszielen zu motivieren, bedarf es der zwischenmenschlichen Beziehung und einer durch sie ausgelösten Resonanz" (ebd.). Das kann einerseits durch Gespräche, aber andererseits auch durch Musik und Bewegung erfolgen, wie Bauer darlegt.

Raum und Zeit für solche Veränderungen benötigen eine andere Schulform. Während in der herkömmlichen Halbtagsschule noch viel Hetze, Druck und schlechte Arbeitsbedingungen für Schüler, vor allem aber für Lehrer vorherrschen, plädiert Bauer für die weiträumige Einrichtung der Ganztagsschule. Diese sollte als vorrangiges Ziel die massive Ausweitung von Zeit haben: Zeit für Sport, Spiel, Musik, Kunst und soziale Projekte.

Für all das benötigt Schule ein neues Beziehungsgeflecht, eine Allianz zwischen Schülern, Lehrern und Eltern, die einen maßgeblichen Einfluss auf das kooperative Zusammenwirken zum Wohle des Kindes haben. Kooperationen sind ebenso im Lehrerkollegium notwendig, da derartige Unterstützungsleistungen auch die Beziehungsfähigkeit des Einzelnen erhöhen und die Belastung vermindern: "Der bedeutendste Beitrag, den Lehrerinnen und Lehrer innerhalb ihres Kollegiums zur Kollegialität und zur gegenseitigen sozialen Unterstützung leisten können, besteht daher darin, anzuerkennen, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Arten gibt, ein guter Lehrer zu sein".

Aussagen wie diese stützt Bauer weniger auf Ergebnisse der aktuellen Unterrichtsforschung als vielmehr auf Studien seines Kollegen und emeritierten Psychologie-Professors Uwe Schaarschmidt, der das Buch auch auf dem Einband bewirbt. Rückgriffe auf Schaarschmidt sind einige wenige, fachliche Quellen neben Hartmut von Hentig und eigenen Studien, die Bauer den "Analysen" zugrunde legt. Zumeist - und das wirkt manchmal etwas überflüssig - weist er in Fußnoten auf Zeitungslektüre hin, die seine Argumente untermauern sollen. Nach einiger Zeit des Lesens fragt man sich jedoch, warum er diese Quellen hinzu zieht, denn viele von den Aussagen, für die er Verweise bringt, zählen für ein pädagogisch interessiertes - nicht zwingend fachlich involviertes - Publikum schlicht zum Alltagswissen.

Dazu zählen nicht zuletzt auch die abschließenden Aufrufe des Autors, sich in Schüler und Kinder einzufühlen beziehungsweise als verantwortungsvolle Erwachsene Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Schließlich beginne "Bildung mit dem ersten Lebenstag". Das ist nicht nur Eltern mehr als klar: Diese Argumente klingen sehr belehrend und kommen mit erhobenem Zeigefinger daher.

Zukunftsweisend und dabei reformpädagogisch rückfällig wird Bauer am Ende seines Buches, wenn er die Frage "In welcher Welt wollen wir leben?" beantwortet mit: "Der Dreh- und Angelpunkt für Erziehung und Bildung sind die handfesten, realen Erfahrungen, die junge Leute mit handfesten, realen Personen machen. Ein lebendiges, fest gefügtes Miteinander und persönlich erlebte gute Vorbilder sind die Voraussetzung für Motivation und für die Fähigkeit, beziehungs- und gemeinschaftsfähig zu werden". Diese Ansicht, die auf ein pädagogisches Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Namen wie John Dewey, Peter Petersen, Adolf Reichwein und Maria Montessori verweist, erscheint in einer technologisierten und mediatisierten Lebenswelt zunächst brüchig. Zu stark ist ein Aufwachsen heutzutage in der "Informationsgesellschaft" mit technischen Medien durchdrungen.

Doch auf den zweiten Blick macht gerade diese Situation den scheinbaren Rückschritt notwendig und beschreibt dabei den einzigen möglichen Fortschritt für das Bildungswesen im 21. Jahrhundert: Bevor mediatisierte Sekundärerfahrungen sinnvoll sind, benötigen Kinder und Jugendliche reichhaltige Erfahrungen "aus erster Hand"; brauchen sie kommunikative und interaktive Zugänge und Möglichkeiten in Lehr- und Lernkontexten; heißt Resonanz den eigenen Körper, die eigene Sprache zu entdecken. Dazu trägt eine "neurobiologische Schule" gewiss bei.

Im Grunde überzeugt Bauer durch seine unprätentiöse Herangehensweise an den Sachverhalt, dem er als Mediziner und Fortbildner - und nicht in erster Linie als Pädagoge - begegnet. Wenngleich dieser Ansatz etwas Fruchtbares in die Reformlandschaft des Bildungswesens hineinträgt und neurobiologische Erkenntnisse wichtige Hinweise für eine neue Beziehungsqualität der schulischen und nicht-schulischen Akteure beinhalten, so erscheint es dennoch manchmal fraglich, warum Bauers Argumente auf 140 Seiten ausgebreitet werden müssen. Was er zu sagen hat, ist zweifelsohne wichtig. Es hätte allerdings noch etwas knapper ausfallen können.


Titelbild

Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.
Piper Verlag, München 2005.
272 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3492241794

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Joachim Bauer: Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005.
192 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3455095119

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Titelbild

Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. Eine Streitschrift.
List Verlag, Berlin 2006.
173 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3471795421
ISBN-13: 9783471795422

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Titelbild

Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 345550017X
ISBN-13: 9783455500172

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Titelbild

Joachim Bauer: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
142 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783455500325

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