Metaphorisches Sprechen

Über den Begriff und die Funktion des "Körpergedächtnisses" im kulturwissenschaftlichen Diskurs

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Im Vorwort zu ihren Untersuchungen der "Bilder des kulturellen Gedächtnisses" in der "Gegenwartsliteratur" (1994) sprach Sigrid Weigel davon, dass die Bedeutung des "Körpers als und für das Gedächtnis" in der Theorie noch vergleichsweise "wenig Beachtung" gefunden hätte. Dies hat sich in den letzten dreizehn Jahren ein wenig geändert; nicht oft, aber gelegentlich taucht das ,Körpergedächtnis' im wissenschaftlichen Diskurs auf.

In dem Lexikon "Gedächtnis und Erinnerung" (2001) gibt es kein Lemma ,Körpergedächtnis', aber das Lemma "Körper". Rüdiger Campe unterscheidet in dem Artikel den "memorialen Körper, in den sich Markierungen einschreiben", von dem "monumentalen Körper", der ein "Schema für die Organisation kultureller Orientierung und Erinnerung" sei. Wenn Staat als Körper die Rede ist, oder wenn das Staatswesen als (sei es auch künstlicher) Körper dargestellt wird - etwa in Abraham Bosses berühmtem Frontispiz zu Hobbes' "Leviathan" (1651) -, so handelt es sich offensichtlich um eine metaphorische Verwendung der Vorstellung vom Körper. Das gilt auch für die damit symbolisierten Institutionen einschließlich ihrer (Erinnerungs-) Leistungen.

Nicht ganz so offensichtlich, aber auch metaphorisch ist die Rede vom Körpergedächtnis im Zusammenhang mit dem "memorialen Körper", wie Campe in seinem Artikel deutlich macht, wenn er von der "Einschreibungsmetaphorik" spricht, die in der neueren Kulturtheorie einige Bedeutung erlangt hat. Sie erhielt wesentliche Anregungen von Friedrich Nietzsches Idee einer "Einschreibung kultureller Verfahrensweisen in den Körper", die prägende Bedeutung für menschliche Verhaltensweisen und die Ausbildung von Wertmaßstäben habe. Ergänzt wurde Nietzsches Theorie durch Sigmund Freuds Annahme körperlicher Gedächtnisspuren. Besonders Michel Foucault hat dies dann aufgegriffen und die Einschreibungen kultureller Praktiken und Erfahrungen in Körper untersucht.

Wie genau aber das Körpergedächtnis sich jenseits der Einschreibungsmetaphorik manifestiert, ist umstritten. Das mag mit dem generellen Problem zusammenhängen, dass wir über das Gedächtnis nicht allzu viel Verlässliches zu sagen wissen, trotz des Aufschwungs der neurophysiologischen Gedächtnisforschung. Daher sind wir gezwungen, über die Erinnerung und das Gedächtnis vor allem metaphorisch zu sprechen. Ja, vermutlich stimmt Harald Weinrichs Bemerkung immer noch, dass wir "einen Gegenstand wie die Memoria" "ohne Metaphern" nicht einmal "denken" können ("Sprache in Texten", 1976).

Der Begriff "Körpergedächtnis" taucht in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Neben kulturwissenschaftlichen Verwendungen stehen auch naturwissenschaftliche, entweder empirisch gestützt wie in der biologischen Frage nach den Genen als Speichermedium phylo- oder gar ontogenetischer Informationen (vergleiche Joachim Bauer, "Das Gedächtnis des Körpers", 2002) oder auch hoch spekulativ wie in der Theorie von sich zuweilen körperlich manifestierenden morphogenetischen Gedächtnisfeldern in der Natur (vergleiche Rupert Sheldrake, "Das Gedächtnis der Natur", 1990). Im Folgenden wird es aber ausschließlich um kulturwissenschaftliche Konzepte des "Körpergedächtnisses" gehen.

In mediologischer Hinsicht kann man Informationen, die schriftlich einem toten Ding, etwa einem Brief, anvertraut werden, unterscheiden von solchen, die mündlich einem lebenden Körper, also einem Boten, anvertraut und von diesem nach Ankunft beim Empfänger erinnert und reproduziert werden müssen. Somit lässt sich das "Schriftgedächtnis" des Briefs unterscheiden vom "Körpergedächtnis" des Boten; so das Konzept des Mediävisten Horst Wenzel ("Gespräche - Boten - Briefe", 1997).

Verwandt mit dieser Begriffsverwendung ist die, die im Zusammenhang mit Botschaften an einen selbst steht. Man kann seine Erinnerung einem Ding anvertrauen, genauer gesagt: die Erinnerung an den Gegenstand binden, der zwar nicht ihr Träger ist, aber zu ihrer Voraussetzung wird, indem der affektive Gehalt des Erinnerten an die Präsenz des Gegenstands gebunden wird. Dies ist etwa bei dem Souvenir der Fall, dessen Funktion als erinnerndes Andenken ja bereits in der Bezeichnung explizit wird.

In diesen beiden Fällen wird "Körpergedächtnis" verstanden als Bindung der Memoria an die materielle Existenz eines äußeren Körpers, der unterschieden ist von dem Körper des Erinnernden oder der Kommunizierenden. Diese beiden Konzepte sind in der Kulturwissenschaft indes eher Ausnahmen. Vorherrschend ist ein Gebrauch des Terminus, der implizit oder explizit die eigene Erinnerung an konkrete Teile des menschlichen Körpers bindet - im Gegensatz zu einer spirituellen, mentalen oder psychischen Verankerung von Gedächtnisinhalten.

In aller Regel wird das "Körpergedächtnis" als Komplementärbegriff zum "mentalen Gedächtnis" gedacht. Das mentale Gedächtnis ist seit jeher an das Bewusstsein gebunden, wie auch immer dieses konstruiert wird. Ihm gelten Gedächtniskünste und Mnemoniken; es ist Teil des Denkens und daher unserem Willen unterworfen. Demgegenüber ist also zu erwarten, dass - wenn vom Körper als Gedächtnismedium die Rede ist - "damit auf Erinnerungen Bezug genommen wird, die nicht dem freien Willen unterstellt sind und deshalb nicht beliebig manipuliert werden können", wie es Aleida Assmann ("Erinnerungsräume", 1999) ausdrückte. Der Körper soll also Gedächtnis haben oder sein, repräsentieren oder generieren.

Wie kann so etwas aussehen? Ein Beispiel, das Assmann anführte, sind Initiationsriten, bei denen der Körper des oder der Einzuweihenden verletzt wird. Der Ethnologe Pierre Clastres ("Staatsfeinde", 1976) schrieb: "Nach der Initiation, wenn der Schmerz bereits vergessen ist, bleibt etwas zurück, ein unwiderruflicher Rest, die Spuren, die das Messer oder der Stein auf dem Körper hinterlässt, die Narben der empfangenen Wunden. Ein initiierter Mann ist ein gezeichneter Mann [...]. Das Zeichen verhindert das Vergessen, der Körper selbst trägt auf sich die Spuren der Erinnerung, der Körper ist Gedächtnis".

Dass der Körper selbst Gedächtnis sei, ist die Metapher für einen Vorgang, bei dem die Erinnerung mit Hilfe eines körperlichen Zeichens generiert wird. Als Zeichen verweist die Narbe auf eine Erfahrung, die mental erinnert werden soll. Dass das körperliche Zeichen nicht im materiellen Sinn Erinnerung ist, lässt sich leicht begreifen, wenn wir uns vor Augen führen, dass man vergessen kann, wie man zu einer bestimmten Narbe gekommen ist. In diesem Fall erinnert mich die Narbe allenfalls daran, dass ich etwas vergessen habe. Der Körper also ist bei solchen Vorgängen nur ein Instrument der Erinnerungserzeugung.

Als Träger der Erinnerung figuriert der Körper in dem, - in diesem Zusammenhang immer wieder gern angeführten, - Roman "À la recherche du temps perdu" von Marcel Proust. Proust denunzierte bekanntlich das normale Gedächtnis, genauer gesagt: das Vernunft- oder Augengedächtnis, als literarisch unfruchtbar. Das intellektuelle Gedächtnis liefere kein wahres Bild des Vergangenen, weil die so genannte Erinnerung "durch bewußtes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und [...] die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht" erfasse.

"Vergebens", so heißt es in dem 1913 erschienenem ersten Teil ("In Swanns Welt") des Werkes, "versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand". Wirklich erinnern könne sich nur der Körper. "Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Seiten, seiner Knie und Schultern" sei das wahre Gedächtnis, weil es unwillkürliche Erinnerungen liefere. Tatsächlich aber ist auch Prousts "unwillkürliche Erinnerung" ein angestrengter mentaler Akt, ausgelöst zwar durch einen körperlichen Reiz, aber sich keineswegs unfreiwillig einstellend, wie man sogar an der notorischen Madeleine-Episode zeigen kann.

Der sich einstellenden Erinnerung gehen in Prousts Roman Exerzitien der Vernunft voraus. Der Ursache des Glücksgefühls, das ihm der "mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee" verursacht, versucht der Erzähler habhaft zu werden, indem er sich seinem "Geist" zuwendet: "Er muß die Wahrheit finden". Freilich fühlt sich der Geist überfordert und lässt kurz ab, doch bleibt es nicht dabei: "Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter" Glückszustand "sein mag": "Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. [...] Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören." Nachdem diese Konzentrationsübung erfolglos bleibt, versucht es der Erzähler mit dem Gegenteil: "[D]a ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt". Nun wird ein zweiter Versuch der Konzentration unternommen; und tatsächlich spürt der Erzähler dann die Erinnerung langsam in sich empor steigen. Ungewiss, ob die Erinnerung ihm zu vollem Bewusstsein kommen würde, ermattet der Geist wieder, versucht aber noch "[z]ehnmal" sich zu der allmählich aufsteigenden Erinnerung "hinunterzubeugen", bevor sie dann "mit einem Male" bewusst "wiedererkannt" wird.

Die ins Bewusstsein gerufene Erinnerung ist bei Proust also die Folge einer mentalen Übung, die mit ihrem Wechsel von Konzentration und Zerstreuung eine alte Meditationstechnik wieder belebt. Es ist der Wille, sich zu erinnern, der die Erinnerung mittels gewaltsamer Meditation aus den tiefsten Gedächtnisschichten hervortreibt. Der Vorgang wird als "Körpergedächtnis" metaphorisiert, weil die Erinnerung durch einen körperlichen Reiz stimuliert wird.

Prousts meditative Technik führt zu einem weiteren Konzept von "Körpergedächtnis", bei dem die aktuelle Präsenz des Körpers einen Gedächtnisinhalt repräsentiert, der ohne ihn nicht vorhanden oder hervorzurufen wäre. Beispielsweise die körperliche "Abrichtung" von Menschen im "Exercitio, oder wie man es nennet / Trillen", so der Titel eines 1615 erschienenen Buchs von Johann Jacob Wallhausen.

Man kann dies an Hand von frühneuzeitlichen Drillbüchern gut nachvollziehen. Die Drillbücher standen dem Offizier als externes Memorierwerk zur Verfügung. Die darin beschriebenen Abläufe vermittelte er durch Befehle an die untergebenen Soldaten. Diese lernten die Abläufe durch körperliche Übung zu reproduzieren. Die Soldaten selbst kannten das externe Speichermedium nicht, vermochten aber nach genug Training, die darin beschriebenen Vorgänge unter Ausschaltung des Bewusstseins immer wieder hervorzubringen. Das Bewusstsein im Zuge dieser Automatisierung von Bewegungsabläufen auszuschalten, war und ist erklärtes Ziel des Drills, denn im Ernstfall sollen die Soldaten nicht denken, sondern bewusstlos handeln.

Ähnliche Prozesse kennt man von sportlichen Übungen. Auch hier gilt es, den Athleten derart zu konditionieren, dass die eintrainierten körperlichen Aktionen möglichst unbewusst ablaufen. Überlegungen zur "Rationalisierung des Körpers" im ökonomischen Prozess, die im Taylorismus oder Fordismus angestellt wurden (vergleiche Philipp Sarasin, "Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse", 2003), gehören ebenfalls in diesen Bereich. Und auch für geistige und geistliche Exerzitien gilt Vergleichbares. Die ignatianischen Übungen zum Beispiel dienten nicht der Schärfung des Verstands, sondern einer Selbstaffektation, in der die Memoria beziehungsweise der erinnerte Gedächtnisinhalt in die Willenlosigkeit einer körperlichen Empfindung transformiert werden sollte.

Freilich bedarf es hier vorher mental abgelegter Bilder, die dann unwillentlich hervorgerufen werden. Bei diesen Exerzitien ist das "Körpergedächtnis" also der Begriff für das Zusammenspiel körperlicher Übung und mentaler Prozesse, also für einen psychosomatischen Zusammenhang, bei dem der körperlichen Komponente aber Priorität zukommt.

Es ist zu überlegen, ob das ,Trainingsmodell' nicht eigentlich konstitutiv für das ,Körpergedächtnis' überhaupt ist, wenn wir es nicht nur metaphorisch auffassen wollen. In dem Fall ruft die Erinnerung eine habitualisierte Handlung hervor, und auch die körperlicher Handlung reproduziert keine Erinnerung, sondern die unbewusste Aktion des Körpers ist die Erinnerung des Gedächtnisinhalts.

Die in den jüngeren Kulturtheorien erfolgreichste Konzeption von "Körpergedächtnis" ist von vornherein psychosomatisch bestimmt. Hier geht es um Traumata. Aleida Assmann bezeichnete das Trauma als "eine dauerhafte Körperschrift", die der gewöhnlichen Erinnerung entgegengesetzt sei. Denn es handle sich dabei um keinen bewussten Vorgang, sondern um die "Selbsteinschreibung einer traumatischen Erfahrung in die Matrix des Unbewußten".

In diesem Konzept konvergieren das seelische Unbewusste und die körperliche Manifestation des Traumas. Auch hier handelt es sich um eine metaphorische Redeweise in Anlehnung an Nietzsches oft zitierte Inskriptionsmetapher (in "Genealogie der Moral", 1887).

Nietzsche verwandte körperliche Metaphern für geistig-seelische Vorgänge. Er dachte sich das "Körpergedächtnis" als Affektgedächtnis. In dieser Tradition steht auch das kulturwissenschaftliche "Körpergedächtnis". Dabei handle es sich, so Sigrid Weigel, "weder darum, daß der Körper ein Gedächtnis hat [...], noch darum, daß der Körper das Gedächtnis darstellt [oder] repräsentiert. Vielmehr ist das Gedächtnis in den Leib in Form von Dauerspuren eingeschrieben, die durch bestimmte Wahrnehmungen die Wiederholung von Affekten und damit verbundenen Vorstellungsbildern auslösen".

In der Belletristik der Gegenwart wird häufig so getan, als handle es sich tatsächlich um ein rein körperliches Gedächtnis. In diesem Fall kann man mit Sigrid Weigel von der "Verleiblichung einer Körpermetapher" sprechen. Im literarischen Text ist die konkretisierte Metapher seit jeher gängig. Bei der Darstellung psychischer Traumata ist es sogar angezeigt, den Körper zum "Symptomkörper" zu machen, das heißt ihn als "Matrix für die Erinnerungssymbole des Verdrängten" (Weigel) zu benutzen.

Bekanntlich stabilisiert das Trauma eine Erfahrung, die dem Bewusstsein nicht zugänglich ist, und die daher durch Worte nicht - oder jedenfalls nicht auf Anhieb oder ohne Hilfe - artikulierbar ist. Man könnte sagen, dass das Trauma durch die Unmöglichkeit der Narration charakterisiert ist, obwohl es Spuren im Gehirn hinterlassen hat (neuronale Vernetzungen nämlich), die aber durch ein posttraumatisches Angstschutzprogramm blockiert sind, das häufig erst Jahre später mental aufgebrochen werden kann. Das Trauma gleichwohl darstellen zu wollen, macht den Einsatz von Bildern notwendig. Oder: Man lässt es sich anders als mit Wörtern artikulieren, nämlich zum Beispiel in Gesten oder anderen körperlichen Zeichen. Als literarische Technik ist die Verleiblichung seelischer Vorgänge hilfreich. "Körpergedächtnis" ist hier eine Metaphorisierung für die Sichtbarmachung beziehungsweise Sichtbarwerdung von Inhalten des Unbewussten, nicht Sagbaren, noch nicht Verarbeitbaren oder Verarbeiteten. Das "Körpergedächtnis" wird damit zu einer Metapher für den Bereich des "Übergang[s] zwischen Innen und Außen, zwischen Lautlosigkeit und Artikulation"; ein Bereich, wo sich die fragwürdig gewordene Identität im "Diffusen" verliert, wie es die Schriftstellerin Anne Duden ("Schrei und Körper", 1989) einmal formulierte.

Auch in der kulturwissenschaftlichen Rede ist die Verleiblichung der Körpermetapher virulent. Das seelische Trauma wird zum Beispiel als "körperliche Gedächtnis-Wunde" oder als "körperliche Einschreibung" bezeichnet, so bei Aleida Assmann. Sigrid Weigel meinte, dies sei Ausdruck einer "Sehnsucht" nach der "Entzifferung anderer Sprachen als der etablierter Diskurse und Begriffe, insbesondere aber jener Sprache des Anderen, deren Darstellungen Freud am Beispiel der Traumsprache als Entstellungen, als entstellte Darstellungen beschrieben hat". Insofern wohnt dieser kulturwissenschaftlichen Konzeption von "Körpergedächtnis" ein Moment des Widerstands inne, der sich gegen bestimmte Herrschaftsdiskurse richtet, und zwar gegen den Diskurs nicht nur der instrumentellen Vernunft. "Körpergedächtnis" dient hier als Medium der Vernunftkritik.

Der Körper wird dabei zum geeigneten Medium, weil er anders als die Seele noch immer nicht aufgeklärt, vielleicht auch gar nicht aufklärbar ist, und daher als Träger der ,wahren', sprachlosen Erinnerung taugt. Die Seele, die einmal als Gegenkonzept zur Vernunft diente und ebenfalls durch Sprachlosigkeit charakterisiert war - man erinnere sich an Schillers berühmten Vers: "Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr" -, hat in der Moderne als Mittel zum Zweck ausgedient, weil die Aufklärer sie "ins Gehirn" legten, "damit sie denken lerne", wie es im "Marat/Sade" (1964) von Peter Weiss so schön heißt. Freud klärte die Seele auf und brachte die Traumata zur Sprache. Damit verlor die Seele aber ihr metaphorisches Potenzial, wenn es um die Benennung verborgener, gleichwohl aber wirksamer Erinnerungen und damit verbundener Affekte geht. An ihre Stelle tritt der Körper, und zwar, weil er nicht denken kann, weil er keinen eigenen Willen zu haben scheint, und weil er als nicht manipulierbar gilt, so dass er sich als Beglaubiger von Wahrheit eignet.

Dies ist keine besonders neue Idee. Wie so oft konvergieren an so einem Punkt Post- und Prämoderne. Den Vernunftkritikern des 17. Jahrhunderts zum Beispiel galt der Körper und sein Ausdruck - Gestik, Mimik, Haltung - ebenfalls als authentischer als die dem (dis)simulierenden Verstand unterstehende Rede. Baltasar Gracián meinte daher im "Oráculo manual y arte de prudencia" (1647/53): "die Wahrheit wird meistens gesehen, [und] nur ausnahmsweise gehört". Die theoretische Würde, die dem Körper als Heimat des Anderen in der Moderne zuwuchs, ist allerdings neuartig. Bemerkenswert ist, was den gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs angeht, dass das "Körpergedächtnis" ausschließlich Leiderfahrungen erinnert, weil es an das Trauma gebunden wird.

Ein brisantes Beispiel mag Chancen und Gefahren dieser Körpergedächtnis-Konzeption illustrieren. Als das unfassbare Ereignis des 20. Jahrhunderts gilt der Holocaust. In der Prosa von Anne Duden zum Beispiel dient die Engführung von Körper und Gedächtnis der Möglichkeit, das "Wissen" um das, "was da vor nicht allzulanger Zeit im eigenen Land gelaufen ist", aushaltbar zu machen, das Trauma ,Auschwitz' als "Weiterlebende im Post-Faschismus" literarisch zu bewältigen.

In der Theorie wird das Konzept "Körpergedächtnis" in diesem Zusammenhang allerdings durch die Sakralisierung der Rede über den Holocaust problematisch. Jean-François Lyotard ("Heidegger et ,les juifs'", 1988) etwa erklärte die Traumatisierung zur einzig adäquaten Form des Bezugs auf den Holocaust. Als "Offenbarung, die sich nie offenbart, sondern nur da ist", könne sie verhindern, dass der Holocaust vergessen wird. Das meinte den Verzicht auf "Darstellung", denn ",Auschwitz' in Bildern und Worten wiederzugeben, ist eine Weise, dies zu vergessen." Jeder Rekurs auf den Holocaust müsse versuchen, "das unvergeßlich Vergessene zu bergen", was vorderhand nur als nichtrationale "Affizierung" des Menschen gelingen könne. Als "unbewußter Affekt", der "hinter den Kulissen" verbleibe, könne die wahre Erinnerung "als ein vergessenes Vergessen" ("oubli oublié") oder unbefriedetes Vergessen, wie Freud sagen würde, virulent bleiben, als "Gefühl, unbestimmt, am Körper" ("sentiment diffus sur tout le corps").

In der Psychoanalyse kann das Trauma durchgearbeitet und damit zu einer befriedeten Erinnerung werden - oder es wird dadurch dem befriedeten Vergessen überlassen. Da dies im Fall des Holocausts nicht sein soll, muss dieses Trauma einem nicht aufklärbaren Medium übergeben werden, und das ist nach Lage der Dinge der Körper, in dessen Gedächtnis es ,eingeschrieben' wird. Damit wird - wenigstens metaphorisch - dauerhafte Virulenz gesichert, aber als Begleiterscheinung stellt sich ein Rede- und Erklärungsverbot ein. So einzigartig soll dieser Vorgang gewesen sein und so sehr die Ausgeburt einer instrumentellen Vernunft, dass seine Erinnerung jeder Rationalität entzogen bleiben und der ,stummen Beredtheit' des Körpers überantwortet werden soll.

Anders als in der Belletristik birgt diese Idee wissenschaftlich erhebliche Gefahren, weil sie gegenaufklärerischen Konzepten gegenüber wehrlos ist. Jedenfalls wirkt die Metapher in der wissenschaftlichen Rede, wenn sie theoriebildende Funktion erhält, mitunter eher verschleiernd, als dass sie präzise bezeichnet, worum es geht, nämlich eine seelische Traumatisierung, die über psychosomatische Zusammenhänge auch den Körper affizieren kann, ohne dass dieser die zu Grunde liegende psychische Verletzung tatsächlich erinnert.

Am unproblematischsten und leistungsfähigsten ist die Kategorie "Körpergedächtnis" also bei Phänomenen, wo es materialiter um körperliche Erzeugung und Repräsentation von Gedächtnisinhalten geht, wie ich anhand des militärischen Drills, des sportlichen Trainings oder bestimmter Exerzitien darstellte; oder auch bei Vorgängen, wo die Erinnerung an die Existenz oder Präsenz äußerer Körper wie Boten oder Souvenirs geknüpft ist. Nicht ganz so unproblematisch, ist die Metaphorisierung des Körpers als Gedächtnisort für Traumata in den Kulturwissenschaften. Was die Kulturwissenschaft auffälligerweise ignoriert, ist, dass die schöne Literatur noch eine weitere Art von "Körpergedächtnis" kennt, nämlich den Körper als Aufbewahrungsort für Glückserfahrungen. Hier mag meinetwegen auch die Sakralisierung der Rede stattfinden, denn hier müssen wir nichts erklären.

Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Theroux erzählte in dem Roman "My Other Life" (1996) von seiner Begegnung mit der jungen Queen Elizabeth II. von England. Der Ich-Erzähler sitzt bei einem Dinner am Tisch der Königin und gibt sich seinen Tagträumen hin: "In meinem Traum von der Königin saßen sie und ich allein auf einem Sofa. [...] ,Sie machen einen sehr unglücklichen Eindruck', sagte ihre Majestät. Ihr Gesicht war blass, wie auf den Briefmarken. Ich war zu schüchtern, um zuzugeben, daß ich tatsächlich unglücklich war. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus grünem Brokat. Ihre Ringe blitzten, als sie mit beiden Händen den Ausschnitt aufriss. Ihre Brüste fielen heraus, und ich bettete den Kopf zwischen sie und spürte die kühlen Brustwarzen an meinen Ohren. ,So ist es viel besser, nicht wahr?' sagte die Königin in meinem Traum. Ich konnte nicht antworten, denn ich lag schluchzend an ihrem Busen."

Die Wirklichkeit ist natürlich profaner, das Dinner verläuft in Gegenwart der Königin steif und förmlich. "In ihrer Gegenwart geschah nichts Ungehöriges, Dubioses oder Anstößiges. Alles verlief ordentlich und harmonisch. Sie war Gottmutter." Später am Abend kommt es noch zu einem kurzen Wortwechsel zwischen Königin und Schriftsteller, welcher allerdings nicht sehr aufmerksam ist, weil er der Königin immer auf den Busen starren muss: ",Sie haben mit Büchern zu tun, nicht wahr?' ,Ja, Mum.' ,Dann nur zu. Beschäftigen Sie sich mit Büchern!' Sie hob die Hand und berührte die meine, die wie eine Klaue auf halbem Weg zu ihrem Kleid verharrt hatte. Es fühlte sich an wie ein Bienenstich und ich spreizte unwillkürlich die Finger. ,Ja, Mum.'" Als Elizabeth gegangen ist, bleibt der Eindruck ihrer Berührung: "Dort, wo die Königin die Finger berührt hatte, mit denen ich meinen Füller hielt, spürte ich eine Wärme, ein Brennen wie nach einem Bienenstich. Die Stelle tat nicht weh, sie war nur empfindlich. Und es war auch, als hätte diese Berührung meinen Fingern ein Bewusstsein und ein Gedächtnis gegeben, als könnte mein Fleisch sie nicht vergessen".

Es war, als ob - im Original: "It was as though flesh could not forget". - In aller Kürze macht uns der Schriftsteller klar, dass fast die gesamte Rede vom Körpergedächtnis metaphorisches Sprechen ist. Das sollte man im Gedächtnis behalten.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist die stark gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der Oktober 2007 in dem Buch "Übung und Affekt. Aspekte des Körpergedächtnisses" (herausgegeben von Bettina Bannasch und Günter Butzer) bei Walter de Gruyter in Berlin und New York erscheinen wird.

Wir danken Autor und Verlag für die Publikationsgenehmigung.