Exemplarische Vielfalt

Benedikt Descourvières, Peter W. Marx und Ralf Rättig geben einen Band über "Deutschsprachige Theater-Texte im 20. Jahrhundert" heraus

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel ist Programm: Es ist nicht das "normale", das so genannte "dramatische" Theater, das im Mittelpunkt der Aufsatzsammlung "Mein Drama findet nicht mehr statt" steht. Vielmehr, so versichern die Herausgeber in der Einleitung, stellen alle im Band besprochenen Theatertexte eigene ästhetische Ausdrucksmittel als Antwort "auf die Herausforderungen ihrer Zeit - des 20. Jahrhunderts". Teilweise überschreiten sie selbst gattungsspezifische Grenzen; das Theater des 20. Jahrhunderts hat demnach immer neue Wege, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Hier versammeln sich nun die deutschsprachigen Theatertexte, deren Suche auf die eine oder andere Art erfolgreich gewesen ist. Darunter sind eher zeitgenössische Vertreter wie Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard oder Heiner Müller. Aber auch längst zu modernen Klassikern aufgestiegene Texte wie Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" oder der auch in der Schullandschaft immer wieder gern durchexerzierte Dürrenmatt mit seinem "Der Besuch der alten Dame" finden ihren Platz.

Frank Wedekind, von dessen Texten "Frühlings Erwachen" und "Die Monstretragödie" sich der chronologische Bogen der besprochenen Theatertexte aus entfaltet, präsentiert sich um die vorletzte Jahrhundertwende als seiner Zeit voraus. Einerseits durch die damals als anstößig empfundenen Inhalte, andererseits durch unkonventionelle Theaterformen gelingt es Wedekind denn auch, für großes Aufsehen unter seinen Zeitgenossen zu sorgen. Neben dem Versuch, Komik mit Tragik zu paaren und seine Figuren zu entpsychologisieren, attestiert Dieter Kafitz dem Theaterautor Wedekind vor allem eine Vorreiterrolle durch den Entwurf eines neuen Frauenbilds. Außerdem erkenne Wedekind die Brüchigkeit und Vieldeutigkeit, die dem neuen Jahrhundert anhaftete und verwerte sie in seinen Dramen. Hierdurch wird er - so Kafitz - zum modernen Autor.

Ebenfalls immer wieder für Skandale sorgen mehr als ein halbes Jahrhundert später die Werke zweier österreichischer Autoren, wenn auch inzwischen unter zwangsläufig anderen Vorzeichen. Thomas Bernhards literarisches Werk beinhaltet zwar auch oftmals die Vereinigung von komischen und tragischen Elementen: So speist seine erste, explizit als solche ausgewiesene Komödie ihre Komik hauptsächlich aus den vergeblichen Versuchen eines despotischen Zirkusdirektors, seine Truppe wider alle Hindernisse dazu zu bringen, eine fehlerfreie Aufführung von Schuberts "Forellenquintett" zustande zu bringen. Genauso wie diese Komödie sei Bernhards erstes abendfüllendes Stück "Ein Fest für Boris" unter anderem geprägt durch einen zutiefst zynischen Humor. Allerdings legt M. Buchwaldt den Schwerpunkt in seiner Interpretation nicht auf den grotesken Inhalt des Stücks, sondern beschäftigt sich mit der äußerst faszinierenden Musikalität von Bernhards Sprache, die seine Texte generell auszeichnet. Wieder vollkommen anders, wenngleich in anderer Weise auf der Suche nach neuen Formen für Bühnensprache, kommt der Theatertext "Kuckucks. Wolken. Heim" der umstrittenen Nobelpreisträgerin Jelinek daher. Benedikt Descourvières, der sich in dem vorliegenden Band mit Jelineks Theater beschäftigt, stellt dem Leser ihr Werk jenseits von "schlagzeilen- und quotenträchtigeren Referenzkategorien wie ,lustgesteuerte Gewaltpornographie' und ,Sprach-Trash'"vor. Bestehe zwischen Bernhards und Jelineks stark strukturierten Sprachbauten auch teils eine gewisse Nähe, so stehe doch Jelineks oft collagenartiges Werk, das sich manches Mal von herkömmlichen Theaterkriterien wie Figur, Dialog und Handlung fast vollkommen verabschiedet, recht einzigartig da in den letzten hundert Jahren des deutschsprachigen Theaters.

Dass das Theater des zwanzigsten Jahrhundert nicht unbedingt so postmodern sein muss wie bei Jelinek oder wie bei Heiner Müller, von dem auch der Titel der Sammlung entlehnt ist, zeigen die besprochenen Texte Dürrenmatts oder Schnitzlers. Wieder vollkommen anders präsentiert sich das auf variablen dramaturgischen Möglichkeiten aufbauende Theater eines Thomas Brasch, wie er es beispielweise in "Mercedes" entwirft. Stark inhaltlich fokussiert erscheint im Gegensatz dazu die verstörende Geschichtsaufarbeitung eines George Tabori.

So heben sich die vorgestellten Texte in Form und Inhalt stark von einander ab und wecken gerade durch ihre Vielfalt neues Interesse beim Leser. Selbst einem derart oft bemühten Autor wie Bertholt Brecht lassen sich hier möglicherweise noch neue Seiten abgewinnen, ganz zu schweigen von potenziellen Neuentdeckungen, die man gegebenenfalls machen kann, wenn man AutorInnen wie zum Beispiel Marlene Streeruwitz begegnet.

Insgesamt verschafft die Sammlung einen gelungenen Überblick über die Theatergeschichte im deutschsprachigen Raum während des zwanzigsten Jahrhunderts.


Titelbild

Benedikt Descourvières / Peter W. Marx / Ralf Rättig (Hg.): Mein Drama findet nicht mehr statt. Deutschsprachige Theater-Texte im 20. Jahrhundert.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
294 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3631541155

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