Die Mücke als Elefant

Eckhard Schumacher nimmt die philosophische Unverständlichkeit mit schwerem Geschütz in Schutz

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was machen wir nur mit dem Unverständlichen? Am besten: es ignorieren. Denn wer Verständlichkeit einfordert, kann nur verlieren; zu simpel ist es, auf die Aussage "Das verstehe ich nicht" zu reagieren, zumindest dort, wo man sie nicht, wie im autoritären setting der Pädagogik (oder der Psychatrie), auf subjektive Unzulänglichkeit beziehungsweise mangelnden Willen zurückführen und daher zielführende Erklärungen als Verständnis-Nachhilfe anbieten kann (und muss).

Man gibt dem Nicht-Verstehen(den) nämlich einfach Recht (und nennt das "Ironie"), und zwar aus einem oder mehreren der folgenden frei wählbaren Gründe: weil es (hier, aber eigentlich: überall) gar nichts zu verstehen gäbe, weil gerade dieses zukunftsträchtige Werk heute sowieso noch niemand verstehen könne, weil der Wille zu "verstehen" (gern auch als "Wut" diffamiert) prinzipiell fehlgeleitet wäre, weil die vermeintliche Unverständlichkeit gar nicht so schlimm (ja, sogar gut und unvermeidlich) sei, oder besser noch: eigentlich als Problem gar nicht existiere, weil man so genau ja gar nicht wisse, wo die Grenze zwischen ihr und der gesuchten Verständlichkeit eigentlich liege.

Schlimmer als der "Schaden", mit solchen Ausflüchten abgespeist zu werden, ist aber der darin angelegte "Spott", für den man nicht zu sorgen hat: aus der sicheren ironischen Warte wird man als philisterhafter Sinn-Fetischist und rationalistischer Schwärmer verhöhnt, dessen kleinliche Kritik bei gleich "genauem Hinsehen" und möglichst wörtlichem Zitieren selbst genauso viel Unklarheit nachgewiesen werden kann (jeder Proseminarist kennt den Trick, Debattierpunkte zu sammeln durch die ständig reiterierte Nachfrage, was man denn nun eigentlich "genau" meine...). Natürlich lässt sich jeder Anspruch auf Verständnis, Vernünftigkeit, Klarheit und Sinn hypertrophisch ad absurdum führen; aber es wäre unnütz, darauf zu bestehen, daß es ja auch gar nicht um diese Allgemeinbegriffe ging, sondern nur um ein, nein: dieses kleine konkret vorliegende Inselchen hier im (es sei ruhig zugeben) übergroßen Ozean des Unerkennbaren. Besser also: wie Odysseus daran vorbeisegeln.

So der Rat an den Nicht-Verstehenden, der sich dem Leser dieses Buchs aufdrängt, und sei es nur aus Trotz. Denn Eckhard Schumacher schildert in seiner 2000 erschienenen Bielefelder Dissertation von 1996 die Situation von der anderen Front: er sympathisiert mit den Nicht-Verstandenen und mit ihren Strategien, sich gegen die Vorwürfe der Unverständlichkeit (und den damit verbundenen moralistischen Anschuldigungen: obskurantistischer Irrationalismus, betrügerische Hochstapelei und so weiter) zu Wehr zu setzen. Seine parteiische Analyse der Defensiv-Manöver ausgewählter Autoren unter Unverständlichkeits-Verdacht spielt deren Spiel mit: vor dem ungeleugneten Aktualitätshintergrund heutiger science wars darf aber bereits die Einbeziehung der historischen Figuren Hamann und Schlegel eigentlich als Ablenkungsmanöver verstanden werden. Sie soll mit einer Art Autoritätsbeweis zeigen, dass schon diese heute als kanonisiert geltenden Aufklärungskritiker der Romantik denselben Anfeindungen ausgesetzt waren wie heute Derrida und de Man, und dass die romantisch-ironische Abfertigung der biederen Vernunftphilister sich in den dekonstruktivistischen Verweigerungen "platter" Eindeutigkeit, Verständlichkeit und seriöser Wissenschaftlichkeit widerspiegelt.

Letzlich geht es natürlich um "viel mehr" als die Rekonstruktion und den Vergleich der polemischen Diskurse: um die Kritik am Ideal der vollkommenen Verstehbarkeit, um die Offenheit für einen immer wieder revidierbaren Sinn, um die Relativierung der Unterscheidbarkeit von Verstehen/Nicht-Verstehen und die Auflösung aller festen Standpunkte, um die Überschreitung des (präzise) Sagbaren ins (vage) Performative, um die geschichtsphilosophische (wenn auch nicht "teleologische") Einordnung der Unverständlichkeit in die Moderne überhaupt.

All dies hat man irgendwie so zwar schon gehört, hier aber stört es, wie gesagt, als leicht zu durchschauendes Ausweichmanöver: potentiell stilisiert es eine konkret deiktische An- und Nachfrage (das da verstehe ich nicht) zum unlösbaren Weltproblem und "verschiebt" (ein Lieblingswort des Autors) so die Last des geduldigen Erklärens, Kommentierens und Aufklärens auf die verächtliche Kärrnerarbeit herkömmlicher Hermeneutik.

Und weil die "Tiefe" wie das "Helle" hier als auszuhebelnde ideologische Vorab-Festlegungen gelten, expandiert diese Art der Literaturwissenschaft ausgiebig in die Breite: statt Transparenz wird immer mehr Opazität produziert, indem der zu klärende Ausgangstext (wo man sich denn mal auf einen einlässt) durch die "Überlagerung" (noch so ein Lieblingswort) mit möglichst vielen Assoziationen, mit allerlei "verstellten" und "verschobenen" Zitaten, Anspielungen und "Spuren" verstellt wird, die dann natürlich üppige "Mehrfachcodierungen" ergeben und alle "mitgelesen" werden müssen. Warum? Ja, warum denn nicht? Da ja bekanntlich "die Fußnoten Ende des 18. Jahrhunderts auf der Strecke bleiben", ist alles möglich und denk-, weil weder beweis- noch widerlegbar. Frei nach Wittgenstein: die Grenze meiner Belesenheit ist die Grenze meiner Literaturkritik, und am Ende muss/darf über den Sinn des Ganzen sowieso "der Leser entscheiden" (bei Derrida natürlich erst: "the last reader"...).

Der Rezensent will aber ganz sicher eines nicht: jener Letzte sein, der dieses Buch liest. Er empfiehlt es daher allen spezialistisch interessierten Literaturwissenschaftlern, die hier vor allem zu Hamann und Schlegel einige (vielleicht) interessante, vor allem aber gelehrte Einlassungen finden werden. Auch aus dem Einleitungskapitel mit seinen generellen Erläuterungen zum Problem der Unverständlichkeit wird man Gewinn ziehen. Aber im Ganzen will der hier getriebene radikal-literaturtheoretische Aufwand, der (vermutlich) kein noch so verstecktes Stück Sekundärliteratur zum jeweiligen Thema auslässt, nicht zur Wertigkeit des Inhalts passen; trotz Schumachers hochgetürmten "Überlagerungen" bleiben Hamanns "Wolken" doch ein eher substanzloses Gelegenheitstraktätchen voller polemischer Retourkutschen, bleibt Schlegels "Über die Unverständlichkeit" eine kaum ausgegorene, später zurückgenommene Aus-Rede ins Ungenaue, und auch die hier aufgedröselten kleingeistigen Scharmützel um Derrida beziehungsweise "Derridada" und dessen nicht sehr viel substanzreichere Kontraattacken scheinen nur Stoff für den gehobenen philosophischen Boulevard beziehungsweise Stammtisch abzugeben. Und am Ende, nach 337 Seiten und 1200 Fußnoten, kreißt der dekonstruktionistische Berg dann das Mäuschen einer "Ethik des Lesens", die auf die Aufforderung hinausläuft, Texte eben immer wieder neu zu lesen.

Das zumindest wird der Rezensent mit diesem Text nicht mehr tun; bei so viel Ironie und immer schon "vorweggenommener" Kritik wäre es aber sinnlos, dies mit kleinlichen Nörgeleien zu begründen: man kann dem Autor nur noch jenes stumpfe, aber endgültige Argument entgegenschleudern, das wir von unserem unerbittlich-unverwüstlichen Literaturkritikerpapst kennen - und das spätestens dann zu seinem Recht kommt, wenn ein Text nicht einmal mehr "unverständlich" ist: "Ich habe mich gelangweilt". Keine weitere Fragen, Euer Ehren. Nächstes Buch.


Titelbild

Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
336 Seiten, 13,20 EUR.
ISBN-10: 3518121723

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