Reisen mit gewissem Ausgang

Hans Joachim Schädlichs zeitenreiche Trilogie "Vorbei"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Louis Stevenson berichtet in dem wunderbaren Text "Mein erster Roman", wie er über Jahre vergeblich versuchte, einen Roman zu schreiben. Dann kam eine Reise ins schottische Hochland, Regen und sein Stiefsohn, der malte. Das steckte Stevenson an. Er zeichnete die Karte eines Eilands, schrieb darunter "Die Schatzinsel", und weil seine Familie mehr darüber erfahren wollte, begann er zu erzählen. Diesmal glückte der Roman; Stevenson meinte, weil er sich ausführlich bei anderen Autoren bedient hatte und es einfach eine "Jungensstory" gewesen war: fast frei von Frauenfiguren und also auf Handlung konzentriert.

Um Stevenson, der lange schon in der Südsee lebt, zu besuchen, macht sich in Hans Joachim Schädlichs Buch "Vorbei" eine Reisegesellschaft auf. Wieder geht es nicht um Psychologie, obwohl eine Frau an Bord ist. Man schreibt das Jahr 1893. Einerseits. Andererseits 1721. Schädlich lässt Stevensons Verwandte und Freunde auf einem Segelschiff fahren, das - inklusive Kapitän sowie dem erzählfreudigen Nürnberger Behrens - einer anderen Zeit angehört. Es ist, als seien sie in "Die Schatzinsel" geraten. Schädlich hat schon in "Tallhover" - dem genialen Roman über einen fast unsterblichen deutschen Geheimdienstler - die Geschichte klar gezeichnet und die Zeitgesetze doch anstrengungslos außer Kraft gesetzt. Hier geht er noch einen Schritt weiter. Während die Passagiere sich über die Unbequemlichkeiten des alten Schiffes beschweren und Telegrafenämter auf Inseln vermissen, erzählt Behrens von Ereignissen auf derselben Route vor 170 Jahren. Und wie auf Stichwort erscheinen wie damals Seeräuber. Trotzdem kommen alle am Ende der Fahrt auf Stevensons Südseeinsel und im Jahr 1894 an. Allerdings zu spät. Stevenson ist tot.

"Tusitala" heißt die Erzählung. So nennen die Eingeborenen Stevenson in ihrer Sprache: Geschichtenerzähler. Es ist der erste von drei Texten, "Torniamo a Roma" folgt, dann "Concert spirituel". Ihr gemeinsamer Titel "Vorbei" verbindet die Erzählungen, dazu die fremdsprachigen Überschriften. In allen geht es um die Vergangenheit, um die Kunst, um das Reisen, um den Endpunkt Tod. Verwandtschaftsverhältnisse von Figuren verknüpfen sie, das Motiv des sprechenden Herzens und Schädlichs genauer, archaisierender, ungeschwätziger, doch reicher Stil. Zumindest bekannt sind die Helden; der große Stevenson sowieso. Johann Joachim Winckelmann und sein trauriges Schicksal kennen die Gebildeten, den aus Nordböhmen stammenden Komponisten Frantisek Antonín Rösler (1750-1792) alias Franz Anton Rösler alias Francesco Antonio Rosetti die Musikliebhaber.

Ist "Vorbei" also eine Art "Sternstunden der Menschheit"? Stefan Zweig griff in dem gleichnamigen Buch wirkungsvoll und tief in den Farbtopf, um Genies bei der Arbeit für die Ewigkeit zu malen: Händel beispielsweise, wie er den "Messias" in übermenschlicher Anstrengung einer tiefen Depression abringt.

Schädlichs Erzählungen sind eher das Gegenteil, nicht nur in ihrer stilistischen Herbheit und wegen ihrer Lust am Ton und ihrem Zitieren zeitgenössischer Quellen. Es geht dreimal um den Künstlertod, um Alltagssorgen und -nöte und um die Sehnsucht nach dem richtigen Platz im Leben. Hässlich ist der Tod des Schönheitsexperten Winckelmann in einer Triester Herberge, unschön die erniedrigende Bettelei Rosettis um Geld bei seinem fürstlichen Mäzen, hart der Alltag an Bord des Segelschiffes.

Wie sich in der ersten Geschichte zwei Zeiten ineinander verweben, so verknüpfen die Texte den Leser insgesamt mit der Vergangenheit. Schädlich bietet seinen Stoff rücksichtsvoller dar als in seinem nicht genug zu rühmenden Roman "Anders", doch wieder begegnen wir Worten und Wörtern, die nur noch wenigen bekannt sind. Die leichte Überbrückung historischer Distanz wäre nur ein Taschenspielertrick.

In Schädlichs Erzählungen, in denen das Erzählen selbst eine große Rolle spielt, bleibt man sich der Zeitfremde bewusst. Das begünstigt Rührung, die im Nu die Zeitbarriere überbrückt: wenn die Aussicht, Stevenson zu sehen, aus einer grantigen Alten eine reiselustige Frau macht. Wenn Winckelmann den Vesuv besteigt und nackt am Lavastrom Tauben brät. Wenn die treu sorgende Rosina Rosetti ihrem Mann das Gepäck im Handkarren zur Kutsche zieht.

Die Rührung ändert nichts am großen Vorbei, das alle Figuren erfasst, das auch uns bevorsteht. Man kann es nicht vermeiden, nur für eine kleine Zeit aufhalten, mit Hilfe der Kunst, des Erzählens. Wie Hans Joachim Schädlich.


Titelbild

Hans J. Schädlich: Vorbei. Drei Erzählungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783498063795

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