Anfang und Ende der Gutenberg-Galaxis

Der Mediävist Horst Wenzel schreibt eine kulturwissenschaftliche Mediengeschichte

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich die mediale Konstellation verändert hat, dass der Stellenwert der Literatur im Zuge der digitalen Revolution zugunsten der virtuellen Medien gelitten hat, beobachten Kommunikations- und Sozialforscher seit Langem. Allerdings überwiegt in der Betrachtung häufig das Staunen über den rapiden Verfall der Lesekultur bis hin zur Klage über einen drohenden Bibliozid. In dieses, durchaus kulturpessimistische Wehklagen mischt sich der Glaube, das Abendland sei in Gefahr. Dementsprechend hat Vilém Flusser bereits 1998 diagnostiziert: "Die gegenwärtige Kommunikationsrevolution ist nichts anderes als die Rückkehr zu einer ursprünglichen Situation, welche durch den Buchdruck und die allgemeine Alphabetisierung durchbrochen und unterbrochen wurde. Wir sind dabei, zu einem Normalzustand zurückzukehren, welcher nur 400 Jahre lang durch den Ausnahmezustand, genannt 'Neuzeit', unterbrochen war."

Es ist das Verdienst von Horst Wenzel, Altgermanist und Mediävist an der Humboldt-Universität Berlin, diesen Wandlungsprozess in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt zu haben. In seiner jüngsten Publikation mit dem sachlichen Titel "Mediengeschichte vor und nach Gutenberg" fasst Wenzel zwölf verstreut erschienene Aufsätze aus den letzten Jahren zusammen. Dabei stellt er griffig seine Kernthese heraus und erläutert sie durch vielfältige Beispiele: Die Spezifika des heutigen mediale Umbruchs können verstanden werden durch den Vergleich mit früheren medialen Umbrüchen. Denn wir erleben, so Wenzel, den Wandel der alles bestimmenden medialen Umwelt nicht zum ersten Mal, war doch die menschliche Spezies immer schon medialen Veränderungen unterworfen: "dem Übergang vom Körpergedächtnis (brain memory) zum Schriftgedächtnis (script memory), dem Übergang von der Handschriftenkultur zur Druckkultur (print memory) und dem Übergang vom Buch zum Bildschirm (electronic memory)".

Unschwer zu erkennen liegt dieser Periodisierung die klassische Dreiteilung zugrunde, derzufolge im Mittelalter eine Entwicklung einsetzte, die allmählich von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit führte, dann in der Frühen Neuzeit von der Schriftlichkeit zum gedruckten Buch weiterging und schließlich in der Kultur der elektronischen Medien mündete.

Sehr eindrucksvoll ist der Gedankengang des Verfassers an den Stellen, an denen seine fachliche Kompetenz als Altgermanist durchschimmert. Sei es die Frage nach den Metaphern der Medialität, die der Verfasser in der "fließenden Rede" und dem "gefrorenen Text" erkennt, sei es im Funktionswandel der "geheimen Sekretäre", die von randständigen Figuren mittelalterlicher Zeiten zu hohen Würdenträgern der Gegenwart aufgestiegen sind, immer geht es um die Kontinuität trotz aller Umbrüche.

Exemplarisch zeigt er dies im elften Kapitel "Von der Gotteshand zum Datenhandschuh". Im Sinne einer Medialität des Begreifens fragt Wenzel nach der kulturellen Bedeutung der menschlichen Hand und ihrer symbolischen Inszenierung. Dabei kommt er nach vielfältigen Untersuchungsaspekten zu einem inspirierenden Ergebnis: "Medienumbrüche setzen das alte und neue Medium nicht alternativ gegeneinander, sie sind vielmehr durch Rückkopplungseffekte [...] charakterisiert.[...] Die Darstellung der Hand in den unterschiedlichen medialen Repräsentationen bewahrt das Wissen, dass die Handgebärde von Zeighand, Schreibhand oder Rechenhand (Handwerk) für eine kulturelle Technik steht, die durch Kontinuität und Wandel gleichzeitig charakterisiert ist."

Noch eindrucksvoller und nachdenklicher stimmt das Schlusskapitel. Der Kenner mittelalterlicher Urkunden weiß um die Bedeutung der Initialen, die "Eikon (Icon) und Schriftzeichen zugleich" seien. Dies habe sich - bei aller medialen Variation in Form von Icons für Windows, Quicktime oder Ähnlichem - nicht gewandelt: "Der magisch-sakrale Zugriff auf das liturgische Wort [...] und der technisch-operationale Zugriff auf das digitale Medium [...] haben bei aller Differenz das Moment der Initialisierung gemeinsam, die (Er)Öffnung eines 'Programms', das schon mit seinem Beginn als Ganzes da ist."

Kurzum: Wer eine kulturgeschichtliche Antwort auf die Herausforderung der Neuen Medien geben möchte, der sollte auf Horst Wenzels Werk zurückgreifen. Immer dann, wenn die Deutungshoheit der Geistes- und Kulturwissenschaften angezweifelt wird, da sie weit entfernt von der "digitalen Revolution" ein Schattendasein führten, muss man in Erinnerung rufen, dass die Kultur der elektronischen Medien medial wie symbolisch keine creatio ex nihile darstellt, sondern auf bereits etablierten Codes aufbaut. Dies an zahlreichen, interessant analysierten und optisch sehr ansprechenden Beispielen betont zu haben, ist nicht die geringste Leistung des Berliner Gelehrten.


Titelbild

Horst Wenzel: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2007.
312 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783534200801

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