Germanistik im deutsch-polnischen Dialog

Zu den Akten des II. Kongresses der Breslauer Germanistik

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die deutsch-polnische Verständigung ist es derzeit nicht gerade zum Besten bestellt. Politische und kulturelle Ressentiments auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze, langlebige nationale Klischees und gegenseitige Stereotypen der Deutschen und Polen sowie unterschiedliche Vorstellungen von der zukünftigen Gestaltung des gemeinsamen Hauses Europas stehen der deutsch-polnischen Verständigung und Zusammenarbeit störend im Weg.

Auf Ebene der akademischen Germanistik funktioniert der deutsch-polnische Austausch und Dialog jedoch. Hier haben sich insbesondere die Universitäten von Berlin und der schlesischen Metropole Wroclaw, dem früheren Breslau, der deutsch-polnischen Verständigung verschrieben. Sowohl in Berlin als auch in Breslau konnte die Germanistik sich bereits zu Anfang des 19. Jahrhundert als akademische Disziplin etablieren, seither bestehen auch schon Kontakte zwischen den germanistischen Instituten der beiden Universitäten.

"Die Wege der Berliner und Breslauer Germanistiken", so schreiben Bernd Balzer und Mark Halub treffend in der Einleitung zu den von ihnen 2006 in vier Bänden beim Neisse Verlag (Dresden) herausgegebenen Akten des "II. Kongress der Breslauer Germanistik", "haben sich in ihrer bald 200-Jährigen Geschichte immer wieder zu beiderseitigem Nutzen gekreuzt, und zwar nicht nur in der preußischen und deutschen Zeit, sondern - was besonders erfreulich ist - auch in der polnischen Gegenwart der Breslauer Universität."

Schon seit den 1970er-Jahren besteht eine Universitätspartnerschaft zwischen der Freien Universität Berlin und der Universität Wroclaw, die sich vor allem auf die jeweiligen germanistischen Institute stützt. Diese pflegen eine enge Institutspartnerschaft und kooperieren bei zahlreichen wissenschaftlichen Projekten zusammen. 2001 fand in Wroclaw anlässlich der 300-Jahrfeier der Breslauer Alma Mater der "I. Kongress der Breslauer Germanistik" statt. Er widmete sich unter dem Titel "Silesia Philologica" dem plurikulturellen Erbe und den vielfältigen deutsch-polnischen Berührungspunkten in der europäischen Überschneidungsregion Schlesien.

Der "II. Kongress der Breslauer Germanistik" fand im November 2005 an der Universität Wroclaw statt. Er war konzipiert, so Balzer und Halub, als "ein Forum für die Bilanz und Perspektiven der deutsch-polnischen Wechselbeziehungen, konzentriert auf den fachlichen Rahmen, in dem Germanistik Kompetenz beanspruchen kann. Aufbauend auf den doch schon beachtlichen Ergebnissen von Forschungen zur deutsch-polnischen Nachbarschaft sollte das Symposion dazu beitragen, die bislang vergessenen oder geflissentlich übersehenen Quellen zu erschließen und die deutsch-polnischen Beziehungen von immer noch wirksamen Tabus zu befreien."

Teilnehmer an diesem Kongress waren in erster Linie Germanisten der Freien Universität Berlin und der Universität Wroclaw, aber auch Forscher von anderen polnischen und deutschen Universitäten sowie aus Frankreich und Tschechien.

Die Akten liegen nun in vier Bänden vor, die von den jeweiligen Sektionsleitern (Sprachwissenschaft, Literaturgeschichte 17. Jahrhundert, Literaturgeschichte 18.-20. Jahrhundert, Kulturwissenschaft) betreut und redigiert wurden.

Der erste Kongressband widmet sich sprachwissenschaftlichen Aspekten des deutsch-polnischen Dialogs und wurde betreut von Franz Simmler und Eugeniusz Tomiczek. Im Zentrum stehen vergleichende Studien zur deutschen und zur polnischen Sprache, Aspekte des deutsch-polnischen Sprachkontaktes sowie sprachhistorische Forschungen. Der Großteil der fast 30 allesamt in deutscher Sprache verfassten Beiträge stammt aus der Feder von polnischen Forschern. Darunter viele polnische Nachwuchs-Linguisten, deren Beiträge Zeugnis ablegen vom hohen Niveau der in Breslau gepflegten germanistischen und vergleichenden Sprachwissenschaft.

Der zweite, von Miroslawa Czarnecka und Wolfgang Neuber betreute Kongressband widmet sich auf kapp 130 Seiten der Literatur des 17. Jahrhunderts. Im Fokus des Interesses steht hierbei insbesondere die Literatur und Kultur des schlesischen Barocks, die seit jeher ein Forschungsschwerpunkt der Breslauer Germanistik gewesen ist. In ihrem Vorwort betonen Czarnecka und Neuber die "Notwendigkeit der Entwicklung und Etablierung einer deutsch-polnischen Komparatistik im Bereich der Frühen Neuzeit." Für die weiter Erforschung der frühneuzeitlichen Kultur und Literatur Schlesiens sei ein Methodenpluralismus zu empfehlen, "in dem sowohl die Grundlagenforschung als auch die interkulturelle, transdisziplinäre Perspektive gleichwertig repräsentiert sind und sich so einander ergänzen können."

Mit den deutsch-polnischen Literaturbeziehungen des 18. bis 20. Jahrhunderts beschäftigt sich der dritte Band der Kongressakten, den Bernd Balzer und Wojciech Kunicki betreut haben. Der Band ist unterteilt in vier Abschnitte: Polnisches aus deutscher Sicht, Deutsches aus polnischer Sicht, Deutsches und Polnisches, Erinnerung und Gedächtnis. Im Zentrum stehen Studien, die diverse Facetten der deutsch-polnischen sowie der polnisch-deutschen Wahrnehmung in der Literatur untersuchen. Es finden sich unter anderem Studien zu imagologischen Fragen, zum Beispiel zu den Polenbildern von Autoren wie Max Waldau, Theodor Fontane, Joseph Roth oder Ernst Jünger, zum Österreichbild in der polnischen Aufklärung, zur wechselseitigen transnationalen Rezeption deutscher und polnischer Autoren und vergleichende Untersuchungen zu den deutsch-polnischen Literaturkontakten und Geistesbeziehungen der Neuzeit.

Der vierte Band der Kongressakten, bearbeitet von Marek Halub und Frank Stucke, versammelt unter dem Titel "Kulturwissenschaft" Studien zur schlesischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart sowie beziehungsgeschichtliche Blicke auf die deutsch-polnischen Kulturkontakte. Die thematische Spannbreite der im vierten Band versammelten Untersuchungen reicht von imagologischen Fragen der schlesischen Kulturgeschichte über mediengeschichtliche und sprachhistorische Aspekte bis hin zu philosophischen, theologischen und anthropologischen Facetten der deutsch-polnischen Beziehungen.

Die bis auf ein fehlendes Sach- und Personenregister durchaus vorbildlich edierten Akten des II. Kongresses der Breslauer Germanistik bilden einen gewichtigen Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung und liefern neben zahlreichen neuen sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen auch viele Anregungen zu weiteren Forschungen bezüglich der vielfältigen literarischen und kulturellen Beziehungen und Kontakte zwischen den deutschen und polnischen Nachbarn.


Kein Bild

Bernd Balzer / Marek Halub (Hg.): Wroclaw-Berlin. Germanistischer Brückenschlag im deutsch-polnischen Dialog. II. Kongress der Breslauer Germanistik. 4 Bände. Band 1 Sprachwissenschaft, Band 2 Literaturgeschichte 17. Jahrhundert, Band 3 Literaturgeschichte 18.-20. Jahrhundert, Band 4 Kulturwissenschaft.
Neisse Verlag, Dresden 2006.
1032 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9788374321563

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch