Der Trümmerhaufen wächst zum Himmel

Natur und Kultur in Kassel – was bei der documenta 12 vor allem nervt, sind die Katalogkommentare zu den ausgestellten Kunstwerken

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kassel, Du Opfer!

„Nach dem Zweiten Weltkrieg ist alles, auch die auferstandene Kultur zerstört, ohne es zu wissen; die Menschheit vegetiert kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen, dem es noch die Selbstbesinnung auf die eigene Zerschlagenheit verschlagen hat“, schreibt Theodor W. Adorno in den „Noten zur Literatur“ (1958).

Wenn eine der Leitfragen der documenta in Kassel im Jahr 2007 lautet: „Ist die Moderne unsere Antike?“, so klingt das zunächst einmal, mit einigem guten Willen, fast schon nach einer rhetorischen Thematisierung der von Adorno angesprochenen Amnesie. Auch die in relativ naher Vergangenheit entstandene moderne Kunst des 20. Jahrhunderts wäre demnach durch den Bruch, den die Shoah kennzeichnet, in so weite Ferne gerückt und hätte eine solche Bedeutungsverschiebung erfahren, dass man sich ihr nurmehr noch wie ein rätselnder Archäologe zu nähern vermöchte.

Das historische Trauma Auschwitz wird allerdings zumindest im Eröffnungsaufsatz der internationalen Beitragsauswahl des „Documenta Magazines N° 1 -3, 2007, Reader“ überhaupt nicht ins Zentrum der Erörterungen gestellt. Vielmehr erblickt dort der künstlerische Leiter der documenta 12, Roger M. Buergel, den „Ursprung“ des seither alle fünf Jahre wiederholten, weltweit renommierten Kunst-Events im „Knotenpunkt von tagespolitischen und historischen Kraftlinien“, den Kassel 1955 – also im allerersten Jahr der Ausstellung – dargestellt habe. Daneben sieht man ein Foto der nahezu komplett zerbombten Altstadt Kassels aus dem Jahre 1947. Die Stadt sei damals zu 80 % zerstört gewesen und mit Hilfe von nationalsozialistischen Plänen, die bereits in den Schubladen gelegen hätten, nach 1945 wieder aufgebaut worden: „Die Kasseler Modernisierungsleistung verlief wie die Geschichte der Moderne selbst höchst ambivalent“, folgert Buergel. „Und so folgte dem Trauma der Bombennächte ein weiteres Trauma.“

Opfer der „Epoche des beispiellosen Staatsverbrechens“ (Buergel) sind in Folge derart trickreicher Formulierungskünste zunächst einmal die Deutschen – und hier nicht zuletzt die Kasseler – selbst. Noch nach dem Krieg mussten sie unter der architektonischen Ideologie der NS-Bauherren leiden, bedeutet uns Buergel – und identifiziert noch dazu die Ambivalenzen der Moderne mit der Kontinuität nationalsozialistischer Stadtplanungen nach 1945.

Wenn die nationalsozialistische Ausstellung „Entartete Kunst“ von dem Autor als eine „Vorform der großen Auslöschung“ erkannt wird, gegen die die erste documenta im Jahr 1955 einen modernen Neuanfang dargestellt habe – so doch nur, um zum kirchentagstauglichen Lamento darüber anzuheben, „wie allzu bereit die Menschen nach wie vor sind, zur Wahrung der eigenen Identität zu töten“. Welche Identität? Und wieso dieser typische Weltschmerzgestus allgemeinen menschlichen Verworfenseins, samt der Beschwörung einer „selbstmörderische[n] Zerstörungsorgie des nationalsozialistischen Deutschland, die im Kassel des Jahres 1955 unübersehbar war“?

Der Engel der Geschichte

Dass sich Kassel auch heute noch in einer den Besucher schwerstens traumatisierenden Hässlichkeit präsentiert, lässt sich nur schwer leugnen. Auch dass man bereits auf der Bahnfahrt dorthin in der Zeitung lesen muss, dass in der örtlichen Fußgängerzone neuerdings regelmäßig Rechtsextreme und Revanchisten demonstrieren, macht auf den Kunstinteressierten zunächst einmal keinen besonders weltoffenen Eindruck.

Umso passender erscheint dann die Ausstellungskopie von Paul Klees Gemälde „Angelus Novus“ (1920), die im Treppenaufgang des Museums Fridericianum hängt, als solle sie als eine Art Motto zur gesamten documenta 12 fungieren. Walter Benjamin schrieb über dieses Bild, das er Klee 1921 abkaufte, in seinem berühmten Text „Über den Begriff der Geschichte IX“: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Nicht nur wegen Ai Weiweis Holztempel am Aue-Pavillon, den eines der nun ja schon zum mitteleuropäischen Alltag gewordenen apokalyptischen Klimawechsel-Gewitter der vergangenen Wochen zu Kleinholz verarbeitet hat: Allzu bereitwillig nimmt man, kämpft man sich erst einmal durch die wild zusammengewürfelten Kunstwerke der documenta 12, das Identifikationsangebot dieser „Angelus Novus“-Figur an.

Der Krieg als Vater aller Dinge

Auffällig ist zumindest die starke Repräsentation des Kriegs, die die Ausstellung so vielfältig kennzeichnet, dass eine vollständige Aufzählung der einschlägigen Kunstwerke müßig erscheint. Allein schon das rote „Mohnfeld“ Sanja Ivekovics auf dem Friedrichsplatz, wo die Nationalsozialisten 1933 die Bücher verfemter Schriftsteller verbrannten, wird zwar von dem meisten Touristen mit dem Ausruf: „Ach guck mal, wie schön!“ als erstes fotografiert – sollte jedoch keinesfalls so idyllisch aufgefasst werden. Zweimal täglich beschallen blechern erklingende Revolutionslieder afghanischer Frauen, die gegen die fundamentalistischen Taliban kämpfen, den zentralen Platz der Stadt. Die Mohnblume wurde jedoch auch schon im Ersten Weltkrieg in den gegen Deutschland kämpfenden Ländern zum Symbol für gefallene Soldaten. War sie es doch, die auf den wüsten Schlachtfeldern in Frankreich als erste wieder zu sprießen begann.

Im Museum Fridericianum, dem zentralen Ausstellungsort direkt am Platz, lässt sich diese künstlerische Beschäftigung mit der Symbolik des Krieges weiter verfolgen. Anatoli Osmolovsky etwa hat für seine Arbeit mit dem Titel „Hardware“ verschiedene Panzertypen aus dem Arsenal der Armeen unterschiedlicher Nationen zu kleinen, in Bronze gegossenen Skulpturen verwandelt. Nunmehr muten die Objekte wie Goldbarren im „Star Wars“-Design an.

Was im Sinne Benjamins auch als kritisches Statement zur Ästhetisierung des Kriegs interpretierbar wäre, denunziert der im unnachahmlichen Duktus unsinnigen Kunsthistorikergeschwätzes verfasste Katalogkommentar jedoch unfreiwillig zu Sammlerobjekten für begeisterte Militaristen: „Osmolovsky poliert die Hauben der Panzer, so dass sie eine gewisse Gefahr vermitteln. Die körperliche Struktur des Kunstwerks ist ein wertvolles Charakteristikum und bildet die Grundlage jeder politischen Position. […] Jeder Panzer verkörpert eine eigene Form und damit einen ganz individuellen Archetyp des Kampfgeists.“

Das russische Artefakt stelle „außerdem ein noch nicht bekanntes Zukunftsmodell“ vor. Sollte damit das alberne Teekesselchen gemeint sein, das sich am Rand des Tischs unter die kantigeren Tötungsmaschinchen geschmuggelt hat, so wäre dies zumindest ein Anlass, um laut aufzulachen und es mit den sprachlichen Ausrutschern in dem documenta-Katalog für dieses Mal noch einmal auf sich beruhen zu lassen. Zumal sich am anderen Ende des selben Raums auch noch die in frittiertem Teig zu ekligen, triefenden Geschwülsten mutierten Panzermodelle Zeng Guogos befinden, zu denen im Katalog glücklicherweise nichts weiter zu lesen steht.

Der antiisraelische Knut

Doch spätestens in der documenta-Halle wird es geradezu gemeingefährlich, die Veröffentlichung der Organisatoren für eine erste Einordnung der Kunstwerke zu Rate zu ziehen. Das bisher wohl meistfotografierte Objekt der gesamten Ausstellung, gewissermaßen der „Eisbär Knut“ der documenta, wie Ulrich Gutmaier in der taz so treffend insinuierte, steht für eine „Zoo Story“ des Künstlers Peter Friedl, die bei den Rezipienten vor allem antiisraelische Affekte provozieren dürfte, wie sie weltweit längst zum traurigen Alltag geworden sind.

Gemeint ist die dilettantisch ausgestopfte Giraffe mit dem überaus sprechenden Kosenamen „Brownie“. Angeblich, schreibt Buergel höchstselbst im Katalog, sei Brownie im Alter von neun Jahren, am 19. August 2002, im „einzigen Zoo im Westjordanland“ dem Angriff der israelischen Armee zum Opfer gefallen. Brownie sei „wohl in Panik mit dem Kopf gegen eine Eisenstange“ gerannt und zu Boden gegangen. „Für Giraffen bedeutet das den Tod, denn ihr starkes Herz ist dafür gemacht, Blut nach oben zu pumpen“. Nunmehr verströme der zum Kunstwerk avancierte Kadaver jedoch „den Charme eines vielgeliebten Steiff-Tieres“.

Was also sollen sich die typischen documenta-Besucher („Schatz, ich habe den Text, der da an der Wand hängt und das Kunstwerk erläutert, zwar noch nicht ganz verstanden, aber gerade wenigstens schonmal fotografiert!“) nun bei dieser Installation bloß anderes denken als so etwas in der Art wie: „Da haben wir es doch wieder: So ein putziges Tier, und die Juden haben es in ihrem ‚Vernichtungskrieg‘ (Norbert Blüm) einfach umgebracht. Wie kann man nur so herzlos sein“?

Roger M. Buergel formuliert dazu jedenfalls Folgendes: „Es ist für Peter Friedl entscheidend, dass Brownie zwar zum Bild taugt, dass dieses Bild aber, so steht zu hoffen, eine andere Geschichte in Gang setzt als die ohnmächtig stereotypen Medienbilder aus der Konflikt- und Besatzungszone, an denen sich jede politische Rationalität blutig stößt. Brownie ist das Kondensat und zugleich der mögliche Keim eines historisch-politischen Epos. Diese Geschichte beginnt mit der wundersamen Metamorphose der toten Giraffe zu einer Idee.“

Einmal ganz abgesehen von der Frage, wie man sich eine „Rationalität“ vorstellen solle, die sich „blutig stößt“ und wie eine Giraffe in ein „Kondensat“ verwandelt werden solle: Was für eine „Idee“, was für ein „historisch-politisches Epos“ meint Buergel um Himmels Willen mit seinem mehr als nebulösen Geraune? Die „Protokolle der Weisen von Zion“? Mal im Ernst: Unterstützt diese Inszenierung der Giraffe nicht vielmehr gerade diejenigen „stereotypen Medienbilder“, wie sie die Nachrichtensender heute so gerne von Israels Kriegen gebetsmühlenhaft beschwören?

Ähnliches Stirnrunzeln provoziert einer der am stärksten berücksichtigten Künstler dieser documenta, Juan Davila. Seine wirklich niederschmetternd grausamen Gemälde handeln von Vergewaltigung, Folter und Kolonisation indigener Kulturen. So weit, so gut – doch muss es wirklich sein, auf einem dieser Bilder die US-Flagge dort, wo sich normalerweise die „Stars“ befinden, mit einem großen Hakenkreuz zu verzieren?

Gewiss: Kunst muss nicht „politisch korrekt“ sein, Kunst darf und soll Tabus brechen. Doch wenn es sich dabei um ein solches handelt, das auch hierzulande vom nächstbesten Kasseler Spießbürger über globalisierungskritische Attac-Mitglieder bis hin zu Wählern der „Linken“ Oskar Lafontaines jeden Tag mit großer Lust am Ressentiment missachtet wird – dann ist das wohl auch in der internationalen Kunst nicht viel mehr als plumper antiamerikanischer Provinz-Populismus à la Herta Däubler-Gmelin.

Dunkle Räume und schwingende Hüften

Selbstverständlich lohnt es sich trotzdem, in dem großen Trümmerhaufen von Kunst, mit dem einen die documenta 12 manchmal dann doch etwas überfordert, zu stöbern. Saâdane Afifs Installation „Black Chords Plays Lyrics“ (sic!) etwa hört man in den weitläufigen, Gewächshäusern gleichenden Fluchten des Aue-Pavillons schon von Weitem. „Spielt da wer Musik?“ denkt man – und wird von den vereinzelt erklingenden E-Gitarrenakkorden geradezu magisch angezogen. Dann steht man in einem dunklen Raum, der vollgestellt ist mit 13 schwarzen Gitarren und ältlichen Verstärkern. Wie von Geisterhand erklingt bald von hier, bald von dort ein mal offener, mal verminderter oder auch dissonanter, mit einem Plektrum gestrichener Akkord.

Erschütternd ist die Videoinstallation „The Lightning Testimonies“ Amar Kanwars in der Neuen Galerie. Man sitzt in einem abermals lichtlosen Saal, während sich ringsum auf mehreren Bildschirmen die Geschichte militärischer Massenvergewaltigungen in Indien konkretisiert, erzählt von betroffenen Frauen oder solchen, die deren Trauma-Erzählungen tradieren. Das ist Kunst, die wirklich weh tut und die man, wenn man schwache Nerven hat, nicht länger als zehn Minuten erträgt. Hier findet keine wohlfeile Stofftier-Verkitschung statt, und hier wird auch kein pornografischer Voyeurismus bedient. Schon allein deshalb hat es diese Arbeit verdient, besonders hervorgehoben und empfohlen zu werden.

Im Gedächtnis bleibt nicht zuletzt die Performance Trisha Browns, die man – ähnlich einer Szene in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray – mit der immergleich wiederholten initiierenden Song-Beschallung im Museum Fridericianum verfolgen kann. Zu jenem Pop-Song bewegen sich eine Reihe von Tänzerinnen zusammen mit einem einzigen männlichen Kollegen zunächst einmal sehr sparsam: Sie drehen ihren erhobenen Daumen in seltsam choreografierten Kreisbewegungen, heben ihre Beine, schwingen die Hüften. Dann steigen die Performer wie auf Kommando für etwa eine halbe Stunde in ein Netz von Seilen und Klamotten, in denen sie sich – wie Affen umherkletternd – jeweils für Momente dort zur Ruhe betten, wo es ihnen gerade einfällt.

„Please keep distance to the art“, krähte eine junge Helferin im Minutentakt dazu, um die wild fotografierende Meute der Schaulustigen in Schach zu halten. Sie meinte wohl „artwork“ – denn dass die Besucher der documenta 12 gleich Abstand von der gesamten Kunst nehmen sollten, ist wohl weniger das Ziel der in dreieinhalbjähriger Arbeit konzipierten Mammutausstellung von 500 Werken. Auch wenn die Katalogkommentare der Organisatoren manchmal gerade diesen Effekt zu provozieren drohen – zum Glück können die ausgestellten Künstler im Einzelfall nichts dafür, wie man sie interpretiert oder in welchem direkten Zusammenhang man ihre Werke präsentiert. Wachsam beobachten sollte man solche Inszenierung als kritischer Besucher aber allemal.

Titelbild

documenta 12 Catalogue.
Taschen Verlag, Köln 2007.
448 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783822816776

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

documenta 12 Magazine No. 1-3, Reader.
Taschen Verlag, Köln 2007.
672 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783822825303

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