Die dunkelste Kunst

Überspannte Spannungsbögen: J.K. Rowling schickt "Harry Potter" in den entscheidenden Kampf

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

[I: Expelliamus!]

Fantastische Literatur ist übermalte Wirklichkeit. Und das ist rundherum prima, denn jede Literatur ist übermalte Wirklichkeit; Fantasy gibt sich nur unendlich mehr Mühe in den Details. Manchmal geht das ins Auge. Dann kann man keinen Wald mehr sehen vor lauter überzüchtetem Fabelvieh, und jeder umständlich benamste Stinkezwerg bekommt noch ein Kapitel über seinen Stammbaum beigepackt. Natürlich wird der Firlefanz brav katalogisiert, von nimmermüden Fans im Internet, man findet alles über Dunkelzahn und Lao Ma, Ygramul und Barnabas Collins. Schlimm nur, wenn dann die Exegeten kommen und deuteln, dass hinter jedem Trollgesicht ein Seitenhieb auf einen Zeitgenossen steckte, und im Rapunzelturm die große 9/11-Metaphorik. Als wäre Fantasylektüre ein bloßer "Übersetzungsjob", brandaktuell und superdoppelbödig: Die Tafelrunde wird zum Stammtisch und jeder Finsterling aus Tolkiens Wandertagsgeschichten zur kritisch-subversiven Schlüsselfigur. "Woran gemahnt er? Wovor warnt er?" - "Vor dem Atomtod." - "Ach so!"

Das ist die Argumentationsachse, an der entlang über "Harry Potter" gesprochen und gestritten wird, ohne Chancen, den Orbit hinter sich zu lassen: Während es in der tollkühnen Welt der "Amazon"-Kundenrezensionen gern dröhnt, dass Fleißbienchen J.K. Rowling ihr Miniaturen-Wunderland mit allerliebenswertesten Details ausgestaltet habe (also ganzganz toll zum Eintauchen und Mitfiebern, und spannend wie ein Krimi noch dazu!), enthüllt der "Stern", worum es wirklich geht: "Auch im Zauberreich gibt es Schulstress und Konsumterror, verfeindete 'ethnische' Gruppen bekämpfen sich mit kriegerischen Mitteln, und statt einer SMS wird halt eine Eule verschickt", schreibt Oliver Fuchs und spricht die mutige Wahrheit aus: "Der Potter-Kosmos ist ein satirisch überhöhtes Paralleluniversum, das unserer Wirklichkeit auf frappierende Weise ähnelt." Die "taz" dagegen zäumt den Hippogreif von der anderen Seite auf: "Harry Potter sprengt das Fantasygenre", weil es in der Geschichte "eine Menschen- wie eine Zaubererwelt gibt, die wiederum in Gut und Böse gespalten ist, was aber keine strikte Unterscheidung ist", und das ist so komplex, das kann man dann - glauben die Leute von der "taz" - doch kaum mehr Fantasy nennen.

An "Harry Potter" hängt ein schrecklicher, weil lahmer und viel zu unreflektierter Diskurs: Es geht um Realitätsbezug und Genretradition. Es geht darum, wie sehr die Romane um den jungen Zauberschüler Fantasy sind (oder nicht doch eigentlich viel mehr? Besseres?) und wie sehr Fantasy ein cleverer Spiegel der Realität ist (oder doch nur stumpfer Eskapismus?); und wie viel Eigenwert der Geschichte überhaupt noch bleibt, wenn man sie zwischen "Narnia" und "Krieg der Sterne" postiert.

"Harry Potter", da wünschen wir uns klassische rotbäckige kinderlesefreudeweckende Fantasie! Und deshalb muss jeder selbst entscheiden, wann es ihm zu bunt wird. Wo er scheidet zwischen britischer Skurrilität und überspanntem Trash, zwischen postmoderner Zitierfreude und fadem Ideenklau: Wie ernst sollte man ein Buch überhaupt nehmen, in dem Luna Lovegood und Neville Longbottom grün leuchtende Flüche aus ihren Zauberstäben auf die Todesserin Bellatrix Lestrange feuern?

"Extrem ernst", ist darauf die einzig richtige Antwort. Denn jetzt, zum Finale, geht J.K. Rowling an alle Genre- und Charaktergrenzen, haut mit vollster Wucht rein: "Harry Potter and the Deathly Hallows", der siebte und letzte Roman der 1997 begonnenen Reihe, ist ein hartes, ein hässliches, ein geil irritierendes Buch.

[2: Accio!]

Auf den entscheidenden Metern ihres Epos' merkt man Rowling ihre Erzählfreude endlich wieder auf jeder Seite an: Besonders die letzten beiden Romane, Band 5 und 6, liefen oft in viele Richtungen zugleich. Hintergrundgeschichten mussten nachgereicht, Wendungen vorbereitet, und etliche falsche Fährten gelegt werden, alles innerhalb des dramaturgischen Korsetts "Sommerferien - Schuljahresbeginn - Winterkrisen - mittsommerlicher Showdown". Band 7 verzichtet auf das akademische Kleinklein und lässt Harry und seine Freunde Ron und Hermine gleich im August überstürzt und planlos vor den Häschern des bösen Lord Voldemort flüchten. Völlig isoliert und weit weg vom Internat kann ihnen alles passieren, jederzeit. Und das tut es zum Glück auch: Die Figurendynamik Harry - Ron - Hermine wird intelligent, aber mit dem bekannt scharfen Wortwitz zu Ende gedacht, und auch die restliche Belegschaft des "Potterversums" läuft in vielen kurzen Charakterszenen noch einmal zur Höchstform auf. Eher Geschmackssache: Einige, von denen man hoffte, sie würden zum Finale hin noch einmal richtig an Kontur und Einfluss gewinnen - Perci Weasley zum Beispiel oder Professor Trelawney; leider auch Neville, Lupin und Tonks -, bleiben arg farblos. Das liegt zum einen an dem (wertvolle Restseiten zupflasternden) Gewese, das die titelgebenden "Hallows" in Harrys Welt auslösen (die übliche Formel: niemand hat sie je erwähnt, kaum einer von ihnen gewusst, jetzt plötzlich sind neue mysteriöse Artefakte zum Dreh- und Angelpunkt aller Machtkämpfe geworden!).

Zum anderen aber - und das ist fast das Schönste und Wärmste an diesem windgepeitschten (manchmal auch windschiefen) Finale - spielen fast alle Orte aus Harrys privatem Koordinatensystem noch einmal eine tragende Rolle: Ohne dass der Plot zur Nummernrevue oder Schnitzeljagd verkommt, führt Rowling die ganze Breite und Farbenpracht ihrer Romanwelt noch einmal vor, vom Ministerium für Magie über das Bankhaus Gringott's bis zum Haus, in dem Harrys Eltern starben. Die Zahnräder greifen hervorragend ineinander, und in den besten Momenten wird der Zeitdruck hochgepeitscht wie bei "24" ("I understood the thruth before you caught up - I killed him three hours ago!"). Die mehrwöchigen Pausen, als Konzession an die Zwölfmonats-Dramaturgie recht wahllos hier und dort eingefügt, überliest man bequem. Die gefühlte erzählte Zeit der "Deathly Hallows" beträgt keine zwei Wochen, die Lektürezeit keine zwei Tage. Eine runde Sache!

Grandios ist vor allem, dass auch nach zehn Jahren und sechs Vorgängerbüchern immer noch Raum für riesengroße Verschwörungen und alles auf den Kopf stellende Paranoia ist. Und wie Rowling zwar einige erwartbare Wendungen auffährt, sich aber aus all den leisen Ahnungen, Zweifeln und Befürchtungen ein völlig unerwartetes, wunderbar kaputtes psychologisches Dilemma ergibt, das man nicht kommen sehen kann: Das große Leitmotiv des Romans ist Harrys Unvermögen, sind seine Defizite (von Wissenslücken bis zum gebrochenen Zauberstab) und sein Gefühl, noch nicht bereit zu sein. Doch am Ende - schöne Metapher aufs Erwachsenenleben - sind ganz andere (entsetzliche!) Taten gefragt. Amoklaufende Drachen und wütende Riesenspinnen schön und gut - doch es sind nicht die Handlungsorte, die gewohnt farbenfroh-chaotischen Fantasywelten, sondern die charakterlichen Abgründe ihrer Figuren, die Rowling mit brutalster Kompromisslosigkeit auf den Kopf stellt.

[3: Crucio!]

Klar: Kleinere kompositorische Dussligkeiten passieren immer wieder (muss es zufällig Heiligabend sein, wenn sich Harry und Hermine auf einem verschneiten Kirchhof der Vergangenheit stellen?), kitschige Stilpatzer vor allem in den reflexiven Passagen (wenn "TKKG"-Tarzan an seine schöne Gaby dachte, spürte er lediglich, "wie seine Wangen erröteten" und fühlte sich "wie unter einer Wechseldusche". Das Gefühlsspektrum, in dem Harry und Ginny Weasley verharren, ist nicht viel breiter.) Der einzige zentrale Makel des Romans - und jetzt kommt's leider gleich richtig dicke - ist die spektakulär misslungene, allgegenwärtige "Drittes-Reich"-Motivik.

Rassenverfolgungen und Untergrund-Piratensender, Blut-und-Boden-Propaganda und Schutzhaft: Schon in der A-Storyline wird mächtig mit dem Zaunpfahl gewunken. Richtig ärgerlich - weil komplett unreflektiert auf Pointe und Wiedererkennungseffekt geschrieben - ist allerdings der dunkle Magier Gellert Grindelwald, dessen Brut-Experimente und ethnische Säuberungen 1945 - eher zufällig - von Dumbledore gestoppt wurden. Hinterlassenschaft des Grindelwald-Regimes ist unter anderem ein kleines (keltisches?) Symbol, das hakenkreuzlike durch die Handlung irrlichtert, aber keinem (außer Viktor Krum, dessen Heimat Bulgarien damals überrannt wurde) auch nur bekannt vorkommt. "For the greater Good" stand über den Torbögen von Grindelwalds Internierungslager "Nuremgard" geschrieben, und während uns leise Schauer über den Rücken laufen, können die Schlaufüchse schon mal knobeln, wie der Ort in der deutschen Übersetzung heißen wird: Nürnschwitz? Buchenberg?

Um eine solche humanitäre Katastrophe, ein solches globales Trauma in ein Fantasy-Szenario zu übersetzen, braucht man eine Menge psychologischen Raum und alle erzählerischen Energien (so wurde z.B. die Senatsdebatte über das "Ermächtigungsgesetz" in "Star Wars: Episode II" lange, lange vorbereitet und entschieden überlegter orchestriert). Bei Rowling dagegen scheint es, als wolle sie in den letzten Zügen noch ein wenig Gestapogrusel ins Spiel bringen, ihre (Internats-)Helden zu ausgewachsenen Resistancekämpfern machen ("They remained shut in the cupboard-like room for hours at a time. Slowly, the days stretched into weeks." - fehlt nur noch ein neues Tagebuch für Ginny!).

Mit "Harry Potter" ist Joanne K. Rowling nicht einfach nur eine weitere warmherzige, farbige, hintergründige Fensterglasmalerei gelungen, die the real thing hinter den dollsten Knalleffekten aus der Sagenwelt, der Literatur und dem Kino verschwinden lässt. Sondern ein Panorama, das von Buch zu Buch epischer, komplexer und zwiespältiger wurde, und eine (Kinder-)Psychologie, aus der - in realistischem Tempo und mit vielen Rückschlägen und Eigenheiten - eine plastische, erwachsene (nicht nur: Helden-)Persönlichkeit erwuchs. "Harry Potter and the Deathly Hallows" ist Millionen Jahre entfernt von der putzigen Internatswelt des elfjährigen Waisenknaben aus Band 1: aus Kinderbüchern sind (fast) Erwachsenenbücher geworden, aus putzig-postmoderner Pastiche (beinahe "richtige") Literatur.

"Fast" und "beinahe", diese Einschränkungen müssen sein, weil man sich zwar immer wieder dabei ertappt, das Allerschlimmste für die Figuren zu fürchten, aber Rowling jedes Mal doch wieder einen Hoffnungsstrahl aufblitzen lässt. Weil man zwar Harry als erwachsenen Menschen reflektieren will, und dann doch wieder der Ball eher flach gehalten wird. Und, weil ein völlig ausgewachsener und dreidimensionaler Harry gar nicht mehr richtig in eine Welt gehören könnte, in der die Figuren "Luna Lovegood" und "Neville Longbottom" heißen. Dunkler und ernster kann Harry Potters Welt nicht mehr werden, ohne all ihre Prämissen unter sich zu begraben. Näher kann Fantasy-Literatur nicht mehr dran ans echte Leben, ohne ihren Eigenwert zu verlieren.

In einem Gespräch über Märchen verzieht Ron genervt das Gesicht. "That story's just one of those things you tell kids to teach them lessons, right? ,Don't go looking for trouble, don't pick fights, don't go messing around with stuff that's best left alone. Just keep your head down, mind your own business and you'll be okay.'" Stimmt, so erzählte man sie doch früher, diese Geschichten mit Zauberern und Drachen, Trollen und Schwertern, Hexen und Gespenstern.

Wir sind verflucht weit gekommen. Fantastisch.


Titelbild

Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Deadly Hallows. A Novel.
Bloomsbury Publishing, London 2007.
607 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9780747591054

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