Nachkriegskredite

Rudolf Lorenzens Erzählungenband "Kein Soll mehr und kein Haben" handelt von der Teilnahmslosigkeit einer geschichtsvergessenen Generation

Von Christian WerthschulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Werthschulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das knietiefe Waten im Dispo hat ein Ende, doch der Luxus liegt in weiter Ferne. Nur das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, nährt das Begehren - Rudolf Lorenzen kennt die kleinbürgerlichen Weltanschauungen seiner Charaktere. "Kein Soll mehr und kein Haben" lautet der Titel der anthologisierten Geschichten des Berliner Schriftstellers, die - leider ohne einleitende Worte von Herausgeber Jörg Sundermeier - den Auftakt zu einer im Verbrecher Verlag erscheinenden Werkausgabe bilden sollen.

Ein später Ruhm für dem 85-jährigen Lorenzen. 1959 veröffentlichte er "Alles andere als ein Held", den autobiografisch inspirierten Roman eines Lebens, das im Weltkrieg und der Nachkriegszeit immer irgendwie dabei war und die Tugend des Wegduckens kultiviert hat. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen von der "Blechtrommel" an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt, folglich ist es - trotz mehrerer Neuauflagen und nachträglichem Kritikerlob heute nur noch antiquarisch erhältlich. Lorenzen schlug sich als Werbetexter und Journalist durch, dessen Output als Schriftsteller - von der Öffentlichkeit unbeachtet - trotzdem vier Romane und unzählige Kurzgeschichten ausmachte.

Es mag ein Effekt der in "Kein Soll mehr und kein Haben" vorliegenden Auswahl sein, dass sich bei fortschreitender Lektüre des Bandes der Eindruck aufdrängt, Lorenzen habe das Vergessen und Verdrängen zu seinem Lebensthema gemacht. Seine ProtagonistInnen jedenfalls erleben mit Gleichmut die zufälligen Grenzerlebnisse ihres Lebenswegs als Schicksal. "Wen wunderte es, wenn an den ungewohnt warmen Tagen im Mai sich der Chef einer Chemischen Reinigung - allein im Hinterzimmer - ein wenig entkleidete?", fragt sich der unbenannt bleibende Erzähler in "Nur noch einer, der Emil heisst" und bleibt die "Niemand" lautende Antwort schuldig. In Lorenzens Geschichten bringt die außerordentliche Tat gewöhnliche Konsequenzen mit sich. Der Missbrauch einer Jugendlichen zieht nur die Prügel des Vaters und "Untersuchungen" nach sich. Und die Eltern von Bob, die den Tod ihres auf einer Europareise gestorbenen Sohns filmisch rekonstruieren, um ihn zu Hause in ihrem Garten Sonntag für Sonntag den Nachbarn vorzuführen, bleiben am Ende alleine vor der Leinwand, während sich die Nachbarn nur noch per Trinkspruch an den Jungen erinnern wollen: ",It's sunday. Little Bob has died.' Sie lachten, und sie gingen in den Saloon und tranken einen Whisky auf den kleinen Bob".

Vor der eigenen Haustür ist auch das Weltall so nah - selbst die Ausflüge ins Fantastische bleiben bei Rudolf Lorenzen frei von den Versprechungen einer besseren Welt. "Die Expedition" erzählt die Geschichte einer Familie, die mehrere Generationen auf einer geologischen Forschungsreise im Weltall verlebt. Bei der Rückkehr auf die Erde verlassen die jüngsten Enkelkinder das Raumschiff, ihre Großmutter bleibt zurück und schaut aus dem Fenster - als Fremde in einem fremden Land, das bei ihr nicht einmal ein Schulterzucken hervorzurufen vermag.

Man müsse sich von den Gefühlen trennen beim Lesen, und die Dinge realistisch erzählen, hat Lorenzen seine Poetik einmal beschrieben. Seine sparsame Prosa wird diesem Anspruch gerecht - "Kein Soll mehr und kein Haben" verdeutlicht die Teilnahmslosigkeit der Nachkriegsgeneration und ist dabei weit von der ritualisieren Empörung derer entfernt, die gestern gegen die deutsche Geschichtsvergessenheit getrommelt haben und heute die Dinge halt ein wenig anders sehen.


Titelbild

Rudolf Lorenzen: Kein Soll mehr und kein Haben. Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2007.
257 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783935843836

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch