"Der spannungsreiche Lebenszustand"

Gesa Ingendahl untersucht den Witwen-Stand in der Frühen Neuzeit

Von Pauline PuppelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Puppel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Tot, tot ist er, und tot ist mir die Welt und alles, was in ihr ist!" Mit diesen Worten brachte Landgräfin Elisabeth von Thüringen, die später eine Heilige werden sollte, die Trauer um ihren 1227 verstorbenen Gemahl zum Ausdruck. Der Tod des Ehemannes beraubte die Ehefrau ihres sozialen Beschützers. Sie trat in den vom Ehemann befreiten Zustand, den Stand der Witwen, ein und wurde Grenzgängerin zwischen den Welten der Frauen und der Männer.

Aus kulturhistorischer Perspektive widmet sich die Tübinger Historikerin Gesa Ingendahl diesem Stand am Beispiel der kleinen, aber nicht unbedeutenden Reichsstadt Ravensburg, die geprägt war von regionalem und Fern-Handel sowie vor allem durch das vielfältig ausdifferenzierte Handwerk. Nach dem archivischen Quellenmaterial bildeten Witwen die zweitgrößte soziale Gruppe der Ravensburger Stadtbürger. Der Witwen-Stand wurde durch haus- und sozialständische Merkmale begründet, die Witwen mit anderen Frauen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit teilten, darüber hinaus übten Witwen jedoch Funktionen aus, die aus der Institution Ehe abgeleitet waren.

Witwen verfügten in der Frühen Neuzeit über rechtliche Freiräume. Während ledigen und verheirateten Frauen viele Handlungsräume des öffentlichen Lebens verschlossen waren, waren Witwen zu eigenständigem und verantwortlichem Handeln rechtlich legitimiert. Dadurch wurde der Witwen-Stand zu einem abgegrenzten, herausgehobenen Stand, der einen konstitutiven Bestandteil des städtischen Ordnungsgefüges bildete. An der Konstituierung des Standes sowie seinen sozialen und kulturellen Bedeutungen wirkten sowohl die Obrigkeit als auch die Witwen selbst - beide Seiten suchten in wechselwirksamen, fein ausbalancierten Aushandlungsprozessen ihre jeweilige Position.

Die Verfasserin nähert sich den unterschiedlichen Sinnformationen in vier Kapiteln und fragt nach dem konstruktiven Gehalt auf je unterschiedlichen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Zunächst skizziert sie die Witwenschaft in der ständischen Gesellschaft, die ihren Ausdruck in sehr unterschiedlichen Quellengruppen findet. Ingendahl betont, dass Verschriftlichung und Verrechtlichung eine enge Verbindung eingingen, da der Witwenstand bereits früh des Mediums Schrift für Sicherung und Regulierung bedurfte. In einem zweiten Abschnitt verortet die Verfasserin die Ravensburger Witwen in ihren jeweiligen sozialen und ökonomischen Lebenswelten und untersucht die ständische Sinnformation als Distinktionsmerkmal. Im dritten Kapitel zeichnet Ingendahl die obrigkeitlich-normativen Regelungsversuche unter Berücksichtigung der Übergänge von Gewohnheit zu Gesetz, der Beziehung von mündlich Tradiertem und skriptual Neugeschaffenem nach. Deutlich arbeitet sie den Zusammenhang von Witwenschaft und struktureller Armut heraus und analysiert die Zuschreibung "bedürftig" zu Witwen. Im letzten Kapitel spiegelt sie die herrschaftliche Blickrichtung anhand der Heiratsverträge, die die sensiblen Praktiken des innerfamilialen Erbens und Teilens überliefern. Die Verfasserin erarbeitet die kulturell wirksamen Bedeutungen des Witwen-Stands, die an dieser Quellengattung angelagert sind.

Inspiriert von der geschlechtergeschichtlich ausgerichteten Alltagsforschung fragt Ingendahl in ihrer gut lesbaren Studie nach den spezifischen Handlungsräumen und Lebensweisen von Witwen, um die lokalen Dynamiken im frühneuzeitlichen Ravensburg zu kontextualisieren. Gekonnt verknüpft sie Ansätze der rechtsgeschichtlichen Forschung mit der rechtlichen Volkskunde sowie der Sozial- und Alltagsgeschichte und der Zunft- und Handwerksforschung. Damit löst sie den Anspruch transdisziplinärer Forschung ein, hebt die fachliche Parzellierung auf und gelangt so zu einer vielschichtigen Betrachtungsweise, die für die moderne kulturgeschichtliche Forschung wegweisend ist. Sie weist am Beispiel der Reichsstadt nach, dass sich der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft auf der Basis sich wandelnder, je neu ausgehandelten und interaktiv hergestellten Geschlechterbeziehungen vollzog. Witwenschaft wurde bislang als überzeitliche und universelle Kategorie betrachtet, aber wie Bernhard Jussen ("Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur", Göttingen 2000) für das Mittelalter weist nun Ingendahl für die Frühe Neuzeit nach, dass der Stand der Witwen ein spezifischer war, der sich im Rahmen der Gesellschaftsformation wandelte und einen enormen Bedeutungszuwachs erhielt, daher historisiert werden muss.

In Kombination des vielfältigen archivalischen Materials, das Steuerbücher, Heirats- und Erbverträge, Zunft- und Handwerksordnungen, Briefe und Klagschriften, Ratsprotokolle und Prozessakten umfasst, gelangt die Verfasserin zu einer angemessenen Dechiffrierung der Quellen. Ihre Quellenkritik ist methodisch an eine diskursanalytische Vorgehensweise angelehnt. Insofern versteht Ingendahl die Entstehung der Quelle selbst als Untersuchungsgegenstand; ihre historische Analyse bewegt sich mithin im von der Quelle gebotenen Sinnzusammenhang und billigt ihr eigene Sinnhorizonte zu. Die spezifische mediale Form, die von den Zeitgenossen für die Quellenpräsentation gewählt wurde, ist danach als Ausdruck der Konstruktion des Gegenstandsbereichs zu interpretieren, die dessen Wahrnehmung entscheidend beeinflusste. Ingendahl betont die für die Frühe Neuzeit maßgebliche Konkurrenz von mündlicher Gedächtniskultur und Verschriftlichungsprozess, der seinen materiellen Niederschlag in spezifischen Medialitäten mit inhärenten Auswahlfunktionen und Bedeutungszuschreibungen findet sowie seine Überlieferung den Entscheidungen männlicher Verwaltungsbeamter und Archivare verdankt.

Mit ihrer anregenden Studie über den Witwen-Stand in der Frühen Neuzeit zeigt Ingendahl auf, dass die Kategorie Geschlecht in der Vormoderne eine von mehreren war, dass sie erst in der bürgerlichen Gesellschaft ihre distinktive Wirkmächtigkeit erlangte. Im Verlauf der Frühen Neuzeit wandelten sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen, mussten Handlungsräume und Lebensweisen immer wieder neu ausgehandelt werden - bis 'Geschlecht' (sex/gender) zur universalen Gesellschaftskategorie wurde. Am Ende des Alten Reichs wurden soziale Rechte und Pflichten der Witwen, die bislang fraglos über den Hausstand in die städtische Ordnung eingepasst gewesen waren, hinterfragt. Die Weiblichkeit der verwitweten Frau wurde in den männlich definierten Räumen nicht mehr kommentarlos akzeptiert. Ingendahl weist schlüssig nach, dass über die konsequente Kontextualisierung spezifische Gebrauchsweisen des Standes, vielschichtige soziale Funktionen in den eigenen kulturellen Ausdeutungen Hinweise auf die Mechanismen und Wirkweisen der ständischen Bedingtheiten der frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung geben.


Titelbild

Gesa Ingendahl: Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
380 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593381710
ISBN-13: 9783593381718

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