Der Primat des Praktischen - Reinhard Brandt entdeckt die Bestimmung des Menschen bei Kant

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In der jüngsten seiner zahlreichen Publikationen tritt der emeritierte Marburger Philosophieprofessor und renommierte Kant-Forscher Reinhard Brandt mit keinem geringeren Anspruch an, als "die Kantische Philosophie unter einem sie leitenden Problem vorzustellen, das der gesamten Forschung bislang entgangen ist". Nicht wie bisher angenommen auf die Beantwortung der zwar in Kants Metaphysikvorlesungen aufgeworfenen und von nachgeborenen Philosophen vielzitierten - jedoch wie Brandt betont, von Kant selbst nie publizierten - Frage "Was ist der Mensch?" ziele das philosophische Streben des Königsberger Weltweisen. Vielmehr sei es die Frage nach der "ganze[n] Bestimmung des Menschen", welche die "Leitidee" der Kantischen Philosophie bilde, die mithin unter einem "Primat des Praktischen" stehe - und zwar spätestens seit 1765. Will jene Frage die "statischen Wesenbestimmung des Menschen" offen legen, so untersucht diese dessen "Zweckbestimmung in praktisch-dynamischer Hinsicht".

Ebenso streng wie von der Frage nach dem Menschen grenzt Brand die "Bestimmungsfrage" von der "Sinnfrage" ab. Nur letztere lasse offen, "ob es einen 'sensus vitae' gibt und ob unser Dasein nicht am Ende sinn- und zwecklos ist". Doch sei es nicht ein "höchstes Wesen", das dem Menschen Kant zufolge den Zweck setzt. Vielmehr entwickele Kant die Selbstbestimmung des Menschen als seine Bestimmung.

Das zentrale Anliegen von Brandts Untersuchung der drei Kritiken besteht nun im Aufweis "nicht bekannter Komponenten unter dem Leitgesichtspunkt der Bestimmung des Menschen". Denn "[d]ie gesamte kritische Philosophie", so Brandts These, "entspring[t] in der Selbstdarstellung des Autors einer existentiellen praktischen, nicht akademisch-spekulativen Aufgabenstellung". Sowohl die drei Kritiken als auch Kants Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Rechtsphilosophie, Ethik und Aufklärung sehen Brandt zufolge in der Beantwortung der Frage nach der "ganzen Bestimmung" oder dem Endzweck der Menschen das eigentliche Thema und Interesse der Vernunft und damit der philosophischen Reflexion. Somit bilde diese Frage die "einheitsstiftende Idee" der kritischen Philosophie.

Diese "Einheit der kritischen Philosophie" sei jedoch nicht in den drei Kritiken Kants zu finden, sondern Aufgabe einer - so eine weitere These Brandts - zwar von Kant nicht geschriebenen aber gleichwohl intendierten "Vierten Kritik", deren "Position" Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft behaupte.

Den "ungewöhnlichen Titel 'Vierte Kritik'", erklärt Brandt, habe er in sein Buch aufgenommen, um anzuzeigen, "daß Kant 1790 abschließend zu der Überzeugung gelangt, daß die KrV ["Kritik der reinen Vernunft"] in beiden Auflagen von 1781 und 1787 eigentlich eine 'Kritik des reinen Verstandes' ist, und daß eine 'Kritik der reinen Vernunft' die Aufgabe hat bzw. hätte, die drei tatsächlich verfassten und publizierten Kritiken in ihrer Notwendigkeit zu begründen".

Dieser "Vierten Kritik" gelten die letzten Abschnitte von Brandts Buch. Dass sie ungeschrieben blieb, ja bleiben musste, liegt Brandt zufolge in der Sache selbst begründet. Denn die Reflexion über ihre Funktion führe in die "Aporien der Letztbegründung" des dreiteiligen kritischen Systems, das zwar in einem Vierten fundiert sein müsse, ohne dieses Vierte jedoch angeben zu können. Denn außerhalb der drei in den Kritiken thematisierten Fähigkeiten (Erkennen, Fühlen, Handeln) sei die sie fundierende einheitsstiftende "Entität" nicht benennbar.

R.L.

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Titelbild

Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007.
630 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783787318445

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