Am Abgrund

Anmerkungen zu den deutschen Nachrufen auf Raul Hilberg

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Wer sich die Zeit nimmt, Raul Hilbergs Standardwerk "The Destruction of the European Jews" (1961) komplett zu lesen, hat hinterher etwas begriffen. Man braucht Zeit dazu: 1351 Seiten umfasst die dreibändige deutsche Ausgabe im Fischer Taschenbuch Verlag. Doch danach ahnt man, welche unglaublichen Ausmaße die Verbrechen hatten, über die man hierzulande tagtäglich mit verlogenen Betroffenheitsphrasen und eliminierenden Leerformeln nur so überschüttet wird. Wer auf das diffuse Guido-Knopp-Geschwätz in den Medien hört, dem ist die Shoah bald ungefähr so egal wie ein Riss in einer Betonstele.

"Die Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen war ein brachialer Gewaltakt; der jüdische Zusammenbruch unter dem deutschen Ansturm war eine Manifestation des Scheiterns." So lautet der erste Satz von Hilbergs Studie. Man sollte diese Feststellung mit der zusammendenken, die sich am Ende des Buchs findet, im Blick auf das Zeitalter atomarer Massenvernichtungswaffen: "Heute ist keine Gruppe von Menschen sich der Erweiterung der Vernichtungsmöglichkeiten intensiver bewußt als die sensibilisierte Gemeinschaft der Juden. [...] Das Judentum sieht sich dem letzten Waffenaufgebot gegenüber. Es verfügt über wenige Abschreckungsmittel. Die Juden können jetzt freier leben. Sie können auch schneller sterben. Der Gipfel ist in Sicht. Unten hat sich ein Abgrund aufgetan."

Solch klaren Sätzen standen nach dem Tod Hilbergs einmal wieder die vielen Verzerrungen gegenüber, die Nachrufe hierzulande eben so an sich haben. Vor allem, wenn es sich um einen jüdischen Wissenschaftler handelt, der sich noch dazu als erster Historiker um die Erforschung des Holocausts verdient gemacht hat. Wie viele Zeitungen stellte auch die "Welt" den jüdischen Historiker kurzerhand als visionären Vater der Theorie einer "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen) vor, wonach die Entwicklung komplexer bürokratischer Strukturen Schuld an der Shoah gewesen sei - und weniger die konkreten Handlungen einzelner Menschen. Nicht nur, dass dies eine dreiste Verkürzung dessen ist, was Hilberg in seinem Hauptwerk herausgearbeitet hat. In der "Welt" gipfelt diese Einordnung Hilbergs in der absurden Behauptung seines "wichtigste[n] Vermächtnis[ses]: Aller Forschung zum Trotz ist der absolute Zivilisationsbruch des Holocaust eben doch nicht rational zu erklären." Sollte dem wirklich so sein, so hätte sich Hilberg wohl kaum die Mühe machen müssen, 1351 Seiten voller genau recherchierter Fakten zum exakten logistischen Ablauf der Judenvernichtung zu verfassen.

In der "taz" ist der angesehene Freiburger Historiker Ulrich Herbert zwar der Meinung, Hilberg habe "eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts" geschrieben. Andererseits ist er aber nicht einmal in der Lage, den Titel korrekt wiederzugeben ("The Destruction of the European Jewry"). Solche Tippfehler mögen verzeihlich sein. Aber wieso muss Herbert den deutschen Lesern, die für verschwörungstheoretische Behauptungen bekanntlich immer ein offenes Ohr haben, am Ende noch die fragwürdige Information servieren, dass Hilberg nichts mit den "Bemühungen staatlicher Stellen und jüdischer Organisationen" im Sinn gehabt habe, "den Judenmord zu einer Art Zivilreligion zu machen"? Tatsächlich hielt Hilberg nichts von religiösen Überhöhungen der Shoah - doch Herberts Bemerkung hört sich beinahe so an, als arbeiteten ominöse jüdische Seilschaften wirklich emsig an einer breiten Durchsetzung eines solchen 'Aberglaubens'.

Da fehlt nur noch Lorenz Jäger in der "F.A.Z". Auch in seinem Artikel kommt es am Ende noch einmal knüppeldick: Dass sich Hilberg für seinen umstrittenen Kollegen Norman Finkelstein eingesetzt habe, muss einfach heraus. Dass er "dessen Kritik an jüdischen Organisation [sic] in den Vereinigten Staaten 'im Kern' teilte, dass er, wie Finkelstein, die Entschädigungsforderungen an die schweizer Banken für überzogen hielt (um das mindeste zu sagen), das mag sicher in der spontanen Sympathie des einen historiographischen Einzelgängers für den anderen begründet sein, aber hatte auch Gründe in der Sache." Welche das gewesen seien, teilt Jäger allerdings nicht mit.

Das ist aber auch nicht weiter tragisch. Denn was bei Hilberg wirklich Sache war, erfährt man nach wie vor in seinen Büchern. Und offenbar nicht in Zeitungen für Deutschland.