"Jugend im Vormärz"

Das Jahrbuch des Bielefelder Forums Vormärz widmet sich den Vorstellungen von Jugend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren hat die Vormärzforschung wieder erhebliche Konjunktur. Friedrich Sengles umstrittenes opus magnum "Biedermeierzeit" wurde in den 1970er-Jahren zunächst heftig diskutiert, bis der Diskurs über die Epoche alsbald wieder abflachte. Großen Anteil an der Wiederbelebung der Diskussion um die Epoche hat das Bielefelder Forum Vormärz seit Mitte der 1970er-Jahre.

Das von Rainer Kolk herausgegebene Jahrbuch 2006 gibt einen informativen Einblick in die spannungsgeladene Zeit etwa "zwischen 1830 und 1848" und zeigt die Lebendigkeit der Forschung. Neben 15 zum Teil ausführlichen Rezensionen zu neueren einschlägigen Publikationen zur Epoche - etwa zur Georg-Herwegh-Ausgabe oder zu den Briefen aus Java der Therese von Bacheracht (siehe literaturkritik.de 9/2006) - sowie Mitteilungen des Vereins im abschließenden dritten Teil versammelt das im 12. Jahrgang vorliegende Jahrbuch der Arbeitsstelle außer einem einleitenden Problemaufriss acht Beiträge zur "Genese und markanten Ausprägungen des modernen Jugend-Konzepts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts".

"Übergänge, Passagen, Schwellen - die Topographie des 'Zwischen' ist", so Kolk einleitend, "konstitutiv für das Genre der Adoleszenzliteratur, deren Konjunkturen man mit der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen in den letzten 200 Jahren wird in Verbindung bringen dürfen." Insofern ist intendiert, weniger "Kontinuitäten und Traditionen literarischer Darstellung von Jugend zu verfolgen", als vielmehr "die Verfahren kultureller Konstruktion von Lebensaltern zu untersuchen."

Unter "sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive" verdeutlicht Carola Groppe in ihrem Beitrag in einer exemplarischen "Fallstudie aus dem Wirtschaftsbürgertum im Bergischen Land" über die reformierte Seidenfabrikantenfamilie Colsmann, dass 'Jugend' "nicht anthropologisch fixiert, sondern sozial und kulturell konstruiert ist." Dabei zieht sie das Fazit: "Erst in der Phase des Vormärz ist in der untersuchten Fabrikantenfamilie 'Jugend' als Phase im Lebenslauf voll entwickelt." So wuchs die Generation der um 1800 Geborenen "in einem familialen Milieu auf, in dem die 'Arbeit am Selbst' reflektierter Bestandteil der Erziehungspraxis geworden war." Nicht ein Generationenkonflikt à la Werther und Karl Moor erscheint dominierend im Hause Colsmann, als vielmehr Fragen der besonderen Individualität der jungen 'Colsmänner', "abgehoben von dem Persönlichkeitsprofil ihrer Eltern."

Wie sehr Phasen und Formen von Jugend- und Adoleszenzkrisen jedoch auch zugleich vor dem Kontext sozialer Schichtung zu verstehen sind, zeigt der rechtsgeschichtliche Beitrag von Stefan Ruppert, wobei deutlich wird, dass gerade die Zeit des Vormärz "reich an neuem 'Jugendrecht' war", allerdings nicht im heutigen Sinne, sondern lange Zeit als "Konzeptionen, die Kinder und Jugendliche sozial disziplinieren wollen."

Frank Mehring widmet sich unter dem "Werther"-Zitat "Sterben! was heißt das?" dem "jugendlichen Freitod im politischen Vormärz" und zeigt anhand des Theologiestudenten und Kotzebue-Mörders Karl Ludwig Sand exemplarisch, wie an die Stelle der romantischen Idee einer Poetisierung des Lebens "die Poetisierung des Politischen, nämlich die Vision eines vereinigten deutschen Vaterlandes unter demokratischen Prinzipien" getreten ist. Dazu nimmt Mehring Sands Plan genauer in den Blick, "sich selbst in Anlehnung literarischer Vorbilder zu töten." Sands imaginierte Inszenierung seines ästhetischen Opfertods als Signal für die Änderung der politischen Verhältnisse ist allerdings, wie Kolk einleitend pointiert, "eine Karriere, die in ihrer Motivation eben nicht generalisiert werden darf."

Materialreich beschreibt Wolfgang Beutin anhand von Künstlerautobiografien Bilder von Jugend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei eher implizit erkennbar wird, dass die Phase der Jugend in der Sicht der Autobiografen "selten als singuläre" erscheint, wie auch die "Textauswahl zum Thema "Jugend" in Biografien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts" von Hans-Martin Kruckis etwa anhand der Beispiele von David Friedrich Strauß' "Das Leben Jesu", von Karl August Varnhagen von Enses Blücher-Darstellung in den "Biographischen Denkmalen" und einigen weiteren Beispielen deutlich macht.

Rüdiger Steinlein untersucht "Inszenierungen männlicher Adoleszenz in der deutschen Literatur der 1820er bis 1840er Jahre", wobei in dieser Phase anders als gegen Ende des Jahrhunderts stets "'gestandene Jugendliche'", also "Jünglinge im frühen Erwachsenenalter", die Helden sind. Vor allem die Jünglinge Stifters und Grillparzers sind "keine revolutionär zukunftsoffenen Figuren, sondern unterliegen der Verpflichtung zur Sozialität."

Den resignativen Rückzug der jugendlichen Helden untersucht auch Sikander Singh in den Texten Immermanns, Stifters und Grillparzers, wobei der Rekurs auf Klassik und Romantik in der erzählenden Prosa dieser Autoren als "Signum für die Unmöglichkeit der Emanzipation von den ästhetischen Paradigmen der vorangegangenen Generation" überzeugend lesbar gemacht wird.

Nicholas Pethes schließlich widmet sich den Kaspar Hauser-Schicksalen bei Marheineke, Stifter und Gutzkow, wobei die für das 18. Jahrhundert kennzeichnende "Idealisierung der natürlichen Ursprünglichkeit von Kindheit und Jugend" zugunsten einer "Eingliederung" der jugendlichen Helden "in die bürgerliche Öffentlichkeit" unterlaufen wird: "Pestalozzis Söhne begründen nicht mehr die Pädagogik aus der Anschauung der Natur, sondern die Natur des Menschen aus seiner institutionalisierten Erziehung."

So zeigt der hier vorliegende Sammelband nicht nur einen Facettenreichtum von Jugendvorstellungen und Jugendkonzeptionen in der Epoche zwischen 1820 und 1848/50, sondern, wie Kolk einleitend pointiert, vor allem auch eine "erstaunliche Distanz zu herkömmlichen literaturgeschichtlichen Wertungen und Reihenbildungen". Denn die jugendlichen Helden dieser Zeit sind eben nicht durchgehend alle die revolutionären Bilderstürmer, als die sie allzu oft pauschalisiert dargestellt werden. Den Spannungsreichtum dieser Zeit anhand der Jugendkonzeptionen plausibel gemacht zu haben, ist das nicht geringe Verdienst dieses Jahrbuchs.


Titelbild

Rainer Kolk (Hg.): Jugend im Vormärz. Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung 2006.12. Jahrgang.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007.
304 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783895286117

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