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In der Westberliner Underground-Zeitschrift "Agit 883", dem Organ der antiautoritären Linken, veröffentlichte die RAF ihr Gründungsmanifest

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1969 und 1972 in 88 Heften erschienen (mit drei Nachläufern bis 1998 und acht Bremer und Hannoveraner Ausgaben), gehört "Agit 883" zum Erinnerungsinventar der westdeutschen, genauer der Westberliner antiautoritären Linken. Jenseits der sich verhärtenden linksradikalen Sekten debattierte "Agit 883" über den militanten Kampf, über die RAF, die Arbeiterbewegung, den Befreiungskampf in den USA, Vietnam, Palästina und daheim, über Klassenverräter wie den Verleger Klaus Rainer Röhl (Konkret) und den Buchhändler Jürgen Schleicher (der skandalöser Weise heute immer noch Buchhändler ist und einen immer noch gut sortierten Laden führt, von denen es nicht mehr viele gibt, auch nicht in Berlin).

Hier schaltete der sich selbst befreiende linke Mensch seine Kontaktanzeigen, suchte die Partnerin für die befreite und befreiende Unterleibsdebatte und versilberte seine alten Autoreifen und seinen halb vermoderten Mopedauspuff. Hier annoncierten die Szenekneipen, in denen sich das, was sich linksradikal, antiautoritär und undogmatisch nannte, zum bourgeoisen Bierchen traf. Hier veröffentlichte die RAF ihr Gründungsmanifest (und das exklusiv), hier wurde sie einer harschen wie nachsichtigen Kritik unterzogen.

"Agit 883" - der Name leitet sich von der Telefonnummer der ersten Redaktionsadresse ab - ist das Debatten-, Selbstverständigungs-, Polit- und Annoncenorgan der undogmatischen Linken in Berlin, und das nach dem großen Aufbruch von 1967 und 1968 und vor den Niederungen der Etablierung der Linken in den siebziger Jahren und der Selbstbefreiung der Subjekte, die einhergingen mit dem Niedergang der K-Gruppen, die die dogmatischen Erben der Studentenrevolte waren.

Diese Mischung freilich ist es, die die handgemachten und heute fast schon erfrischend abweisend gestalteten Heftchen zu einem Dokument über jenen gesellschaftlichen und politischen Underground machen, den insbesondere das Soziotop Berlin (West) ausgebrütet hat. Alle Unfertigkeiten und Suchbewegungen der "Szene" bilden sich in "Agit 883" in ihrer Urform ab. Das Gefühl, dem Staat und seinen Verfolgungen ausgesetzt zu sein, das im "Deutschen Herbst" von 1977 einen nächsten Höhepunkt erreichen sollte, grundierte alle Aktivitäten der Szene. Dieses Gefühl drängte selbst das zusammen, was nicht zusammen gehörte. Das alles führte nicht zu einem Gebiet prärevolutionärer Freiheit, sondern nur zu jenen, teilweise freilich äußerst vitalen Netzwerken, zu denen sich Kneipen, Läden, Händler und Bildungseinrichtungen zusammenfügten. Auch diese ökonomischen Institutionen agierten kapitalistisch. Sie taten dies freilich immer mit dem Anspruch der Gegenökonomie, dem Bewusstsein, die Dinge anders zu regeln, mit mehr Verantwortung auch für andere, die Dritte Welt, die Befreiungsbewegungen oder die Umwelt. Es ist deshalb immer noch eine Überraschung, wenn der Band, den das Herausgeberkollektiv Knud Andresen, Markus Mohr und Hartmut Rübner zusammengestellt haben, "Agit 883" in seiner Mehrfachfunktion vorstellt, nämlich Politforum zu sein, Kommunikationsplattform und Anzeigenblättchen.

"Agit 883" entdeckte noch vor "Zitty" und "Tip", die erst nach 1972 zu erscheinen begannen, dass die Szene ein Medium brauchte, um sich mit dem Allernötigsten zu versorgen - und sei es ein neues Che-Poster oder den neuesten Raubdruck. Aus den wenigen Annoncen der "Agit 883" ist heute ein umfassender und fein rubrizierter Kleinanzeigenteil geworden, in dem nicht mehr nur Autoersatzteile angeboten werden, sondern in dem sich das gesamte Bedürfnis- und Erlebnisspektrum der Szene spiegelt. Nur zwischenzeitlich ist ihr dabei die Politik ein wenig aus dem Visier geraten; aber wen wunderts.

Allerdings ist längst nicht alles, was sich in den Flegeljahren der Szene politisch gab, gleichermaßen ernst zu nehmen. Die Willkürlichkeit, mit der angebliche Abweichler skandalisiert und abgestraft wurden (Jürgen Schleicher mag dafür ein Beispiel sein), lässt die damaligen Akteure heute doch arg selbstgerecht dastehen. Unabhängig davon, ob die Attackierten korrekt gehandelt haben oder nicht, müssen sich die undogmatischen Linken am Ende doch ins Kontor schreiben lassen, dass sie die neue Ökonomie doch arg unbedarft und naiv angegangen sind. So als ob es für Kollektive keine Erfahrungen und Organisationsformen gegebene hätte, auf die man sich hätte stützen können. Kein Wunder, dass das Meiste davon heute fast spurlos verschwunden ist und sich kaum jemand noch daran erinnern mag (und die Bewunderung, die einige der Beiträger an den Tag legen für die damaligen Experimente lässt nicht erwarten, dass der Reflexionsstand heute generell größer ist als vor fast vierzig Jahren).

Andererseits zeigen die politischen Debatten das Dilemma der neuen Generation nach der Adenauerära: nämlich mitsamt den Zeitgenossen in einer offenen Gesellschaft noch nicht angekommen zu sein (und es ist gelegentlich fraglich, ob es mittlerweile so ist), auf die aber die Entwicklung unaufhaltsam zusteuerte. Fragen der politischen Selbstbefreiung einer Gesellschaft wurden intensiv und ernsthaft debattiert, mit allen Erkenntnissen, Irrtümern und Irrwegen, die dabei zu gehen sind, und mit allen Hindernissen, die die Gesellschaft ihren jugendlichen Untergrundakteuren dabei in den Weg legte. Der Band dokumentiert, dass es sich diese Linke mit der Frage der Gewalt allzu leicht und immer wieder sehr schwer gemacht hat, auch und gerade, weil ihr immer wieder der Hang zum terroristischen Underground nachgesagt wurde und die "Befreiungsbewegungen" eine unübersehbare Faszination auf die Schreiber ausübten.

Die "68er" und ihre Folgen sind in regelmäßigen Abschnitten Anlass heftiger und teilweise erbittert geführter Debatten - die ihren Sinn freilich vor allem darin haben, dass diese (westdeutsche) Republik es sich immer noch nicht recht vorstellen will, dass sie ihre Gegenwart eben auch den "Umherschweifenden Haschrebellen" zu verdanken hat. All das und noch mehr dokumentiert der nun vorgelegte Band in seinen Sichtungen und vor allem seiner CD, die alle Ausgaben der "Agit 883" als pdf enthält, was sehr sehr lobenswert ist. Denn Band und CD ermöglichen auf diese Weise einen schnellen und zuverlässigen Zugriff auf ein Medium, das in seiner Zeit als Katalysator gewirkt hat und zusammengefasst all das präsentiert, was diesen deutschen, Berliner Underground ausgezeichnet hat - mithin auch bis heute nachwirkt, und sei es in den bunten und unpolitischen Stadtmagazinen der Gegenwart.


Titelbild

agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972.
Herausgegeben von rotaprint 25.
Assoziation A, Berlin 2006.
296 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3935936532
ISBN-13: 9783935936538

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