Des Teufels Advokat

Imre von der Heydts abenteuerliche Polemik "Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Erstgeborenen zu einem Päckchen verschnüren und nach Marburg schicken. Das dunkle Siegel zwei Finger unterhalb der linken Schulter auf die bloße Haut nähen. Und die "Liste der eingetroffenen Titel" dreimal rückwärts skandieren, nackt, auf einer mondbeschienenen Aue. Dann hat man es geschafft. Dann ist man Rezensent bei Literaturkritik.de. Als letzte Formsache noch der Vertrag: die schriftliche Zusicherung, zu jedem angeforderten Buch binnen 60 Tagen eine Rezension zu fertigen. "Achachach", denkt sich der Novize und unterschreibt mit flinker Hand, "Germanisten sind lässige Leute, die machen nicht gleich Terror!" Fortan liest man froh in den Tag hinein, kostbarste Folianten, prachtvolle Gesamtausgaben, alles als Rezensionsexemplar, umsonst und frei Haus!

Doch dann, aus dem Nichts heraus, mit fremdem Blut an meine Hauswand gemalt - eine Mahnung: "Folgende Bücher verzeichnet unsere Datenbank als in Ihrem Besitz befindlich und noch nicht rezensiert", schreiben die Germanisten und erinnern: Nach spätestens 60 Tagen muss die Rezension verfasst worden sein. Meine Texte stehen aus seit: 159 Tagen. 243 Tagen. 259, 294, 558 und 593 Tagen. Und, in der Spitzenposition: seit 707 Tagen. Hilfe, sie haben's nicht vergessen! Das fragliche Buch ist eine kleine, hübsch aufgemachte Streitschrift mit dem Titel "Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft". Es erschien bei DuMont, im Sommer 2005, das ist Lichtjahre weit weg! Mir wird heiß, mir wird kalt, ich flüchte nach draußen, kauere mich auf den Balkon oder in ein Gebüsch, mache mich ganz klein. Fern höre ich die Schwingen der dunklen Häscher, wie sie im fahlen Mondlicht düster flattern.

[Ein Exkurs:] Das Schöne am Kulturjournalismus ist seine Offenheit für disparate Bilder, für Abseitiges, Ephemeres, für wilde und seltsame Beobachtungen. Das Schöne am Kulturjournalismus sind die Gedankenfäden und Assoziationsketten, die sich kreuz und quer durch Texte, Szenen, durch die gesamte Kulturgeschichte spannen. Das Schöne am Kulturjournalismus, das ist der Moment des Begreifens: wie aus großen Thesen und seltsamen Bildern, aus Historischem und Biografischen, aus Alltag und Expertise ein Teppich geknüpft wird, ein Netz gesponnen, ein Zelt gebaut. Ein wilder, unsteter Ritt, bei dem man niemals sehen kann, welche kuriosen Einfälle hinter der nächsten argumentativen Kurve lauern.

Plötzlich, in der elften Klasse, hatten unsere Abende im Freundeskreis seltsame kleine Lücken. Wir waren immer zu acht oder neunt (Spieleabend, Videoabend), doch irgendwann stand Sabrina einfach auf und hastete aus dem Raum. Die anderen Mädels schauten sich erschreckt an und liefen hinterher, alle sahen sehr besorgt aus. Sabrina stürzte in die Nacht, auf den nächsten dunklen Kinderspielplatz, oder sie kauerte sich auf den Balkon oder in ein Gebüsch. Die Mädels bildeten eine Traube um sie herum, und wer sich der Traube näherte, wurde verjagt. Alle wisperten aufgeregt: "Sie weint! Geht weg! Sabrina geht es sehr, sehr schlecht!" Nach zehn oder fünfzehn Minuten kamen alle zurück ins Haus. Dann ging es Sabrina schon besser.

"Oha!", verstanden wir Jungs irgendwann, "Daher weht der Wind!" Wir wussten: Wir wollen das gleiche wie sie. Um bis dahin ein paar souveräne Lungenzüge hinzukriegen, probierte ich's erst mal mit Nikotin. Nach zwei Tagen kaufte ich mir die erste eigene Schachtel. Zwei Tage später war sie leer. Ende des Monats rauchte ich vor dem Frühstück und in den Pausen und zwischen dem Schreiben und nach dem Essen und eigentlich ständig. Nur zum Sabrinatrösten konnte ich mich nie so richtig durchringen. Sich hinterm Busch um ein paar eilige Züge zu zanken, da fehlte mir einfach das existentielle Grandeur einer tiefen, echten, pathetischen Abhängigkeit.

Womit wir beim Thema sind: "Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft" beackert einen riesigen, superdankbaren Assoziationsraum. Jeder wird beim Lesen seine eigenen Rauch- und Schmauchgeschichten gegenschneiden, sich ganz wunderbar an der Gretchenfrage des Titels abarbeiten. Imre von der Heydt, geboren 1964, ist Fernsehproduzent für RTL, einer von den Guten ("Nicola" und die tolle, tolle "My so-called Life"-Hommage "Mein Leben und ich"). Vor allem aber ist er: Kulturjournalist. Bereit, sich dem Rauchen von allen denkbaren Seiten (historisch, soziologisch, politisch, biografisch, kulturwissenschaftlich) zu nähern und dabei - versuchsweise, augenzwinkernd und nur selten verkrampft - die undankbare Position des Rauch-Befürworters einzunehmen.

Von der Heydt zieht alle Register im Versuch, die Argumente von Rauchfeinden auszuhebeln. Rauchen verkürzt das Leben? Mag sein, aber ist ein Leben ohne Rauch überhaupt lebenswert? Sind medizinische Statistiken nicht bloße Zahlenhuberei? "Die wirklich interessanten Fragen", polemisiert von der Heydt, "bleiben unbeantwortet: Wieso erkranken einige Raucher an Lungenkrebs - und viele nicht? Wieso erkranken auch Nichtraucher? Welche Rolle spielt die Konsummenge? [...] Das Rauchen wird als vollgültiger, alleiniger und 100%iger Faktor gezählt: Und plötzlich sind aus Korrelationen Beweise geworden." Ein interessantes Denkspiel: alles angreifen, alles auffahren, alles gegeneinander ausspielen. Natürlich landet von der Heydt schnell bei Milchmädchenrechnungen, Apfel- und Birnenvergleichen. Egal! Interessant ist es allemal.

Etwa, wenn er den "Deutschlandfunk" zitiert: "Egal ob Sie grillen oder nicht, Sie schlucken mit Ihrer ganz normalen Nahrung jeden Tag soviel Benzpyren, wie ein Raucher mit 140 Zigaretten inhaliert." Wenn er die Gefahren des Passivrauchens zurechtrückt: "Manche Untersuchungen ergaben Werte, die nicht über das Äquivalent von 1 Zigarette pro Jahr hinausgingen. Der realistische Durchschnitt liegt wohl etwa bei einer Teer- und Nikotinmenge von ca. 6 Zigaretten im Jahr." Oder die vielen Zitate, die er - von Wilde und Mann bis zu Pynchon und Italo Svevo - aus der Literatur bemüht. Besonders schön eine Sentenz von Friedrich Torberg: "Ich rauche, trinke schwarzen Kaffee, schlafe zuwenig, mache zuwenig Bewegung und bin auf diese Weise 70 Jahre alt geworden. Vielleicht wäre ich bei gesünderer Lebensführung heute schon 75 oder 80, aber das lässt sich schwer feststellen."

[Noch ein Exkurs:] Nirgendwo erklärt sich dieses Verfahren plastischer als im SZ-Magazin, in der kleinen Rubrik "Das Prinzip". Dort wird Woche für Woche ein Gegenstand, eine Mode, ein Alltagsphänomen auf einer knappen Seite so klug und frisch und konsequent zu Ende gedacht, dass man sich an jedem Satz begeistert den Kopf wund scheuert: Der Fernsehsender "Sat 1" als Heimstatt der "Verwirrung und des Herumlavierens". Die Betreffzeile einer E-Mail als punktgenaue Skala von Intimität und Vertrautheit. Ildikó von Kürthy als Autorin eines immergleichen, jährlich geupdateten "Beratungshandbuchs für das vorläufige Leben". Erratisch, frech und um-die-Ecke, so lehrt Kulturjournalismus die Gegenwart lesen: Immer neu und immer anders.

Entsprechend analytisch arbeitet auch von der Heydt: "Rauchen war nie nur reine Privatsache, es war immer auch ein öffentliches Ereignis, kulturelles Sinnbild, soziales Statussymbol und politisches Ausdrucksmittel." Und deshalb - so die große These dieser "Verteidigung einer Leidenschaft" - kann man am Verhältnis einer Gesellschaft zum Rauchen immer auch ablesen, wie diese Gesellschaft auf das Maßlose, das Genießerische, das Egoistisch-Gefährlich-Individuelle reagiert. Nicht umsonst, betont von der Heydt immer wieder, seien die ersten modernen Restriktionen gegen das Rauchen ("Die deutsche Frau raucht nicht", so Hitler) im Dritten Reich durchgesetzt worden. Von der Heydt zieht gewagte Traditionslinien (zum Beispiel, für die USA, den Dreischritt: Puritaner, Calvinisten, McCarthy-Ära), um "die Auseinandersetzung um das Rauchen als eine Form von 'Kulturkrieg' zu beschreiben. Und dabei geht es um fundamentale Fragen: Wer hat die Herrschaft über das Leben? Wer bestimmt die Regeln? Wer gebietet über unsere Lebens- und Konsumgewohnheiten? Wer entscheidet über die Trennlinie zwischen Gesundheit und Krankheit?"

Ein sehr spannender Gedankengang, aus dem ein tolles Buch hätte werden können. Doch der (bislang unveröffentlichte) Autor argumentiert so hemdsärmelig und flügellahm, dass "Rauchen Sie?" auf dem Niveau rhetorischer Kabinettstückchen verharrt: alles windschief, alles anfechtbar, echte essayistische Dringlichkeit nimmt man diesem gutgelaunten Quatschkopp leider an keiner Stelle ab ("Menschen sollten sich nicht gegenseitig verfolgen", endet das Buch, "Im Zweifel sollten sie lieber gemeinsam eine rauchen. Das ist am Ende gesünder."). "Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft" ist ein missglückter Husarenstreich, eins dieser leichtfertigen "Eigentlich müsste man doch mal..."-Projekte, das eher zufällig zum 250-Seiten-Buch eskaliert ist.

[Ein letzter Exkurs:] Von welcher Seite man das Pferd aufzäumt, ist im Kulturjournalismus ziemlich egal. Der Standpunkt des Autors ist fast auswechselbar, denn viel wichtiger als die Privatmeinung ist seine Fähigkeit, geschickt den Kopf zu drehen, die Dinge aus unterschiedlichsten Richtungen anzugehen. Moralistendresche hat von der Heydt für "Rauchen Sie?" deshalb ganz sicher nicht verdient. Aufgeregtes Raunen ("Seht her, ein Tabubruch. Wie riské!") allerdings auch nicht. Man fühlt sich an Alexander von Schönburg erinnert, bei dem sich Schnöselprojekte wie "Tristesse Royale" und "Park Avenue" abwechseln mit Verzichts- und Bescheidenheitsratgebern wie "Die Kunst des stilvollen Verarmens" und "Lexikon der überflüssigen Dinge". Asket oder Lackaffe? Purist oder Konsumpriester? Falsche Frage! Von Schönburg untersucht aus verschiedenen Blickwinkeln, wie sich Identität und Besitz bedingen, und ähnlich fasziniert ist Imre von der Heydt vom Bezugssystem "Genuss", "Risiko" und "persönliche Freiheit". Hätte er diese Faktoren von-Schönburg-like (also: faktenstark, sauber und mit Sinn fürs Skurrile) gegeneinander ausgespielt, wäre "Rauchen Sie?" ein toller Teppich, ein wunderschönes Netz, ein ganz fantastisches kulturjournalistisches Zelt geworden. Hat er aber nicht. Schade!

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Sie ist staubig und knochig; sie muss schon sehr, sehr lange tot sein. Ich begreife: ich habe den Marburger Germanisten meine Seele verkauft, und jetzt sind sie gekommen, sie zu holen. "Dieses Buch hätte vor 707 Tagen besprochen werden müssen!", dröhnt eine dunkle Stimme, "Herr Mesch, Ihr Versäumnis hat unserer Rezensionsforum besudelt und beschmutzt!" Das dunkle Siegel beginnt zu glühen, brennt sich in mein Fleisch, this is how it ends. "Achachach!", sagt plötzlich jemand in meinem Rücken, eine Frau mit müder, schwerer Zunge. Sie riecht nach meiner Jugend. Würzig, grün und schwer. "Er weint doch schon, seht ihr das nicht?", ruft sie. "Es geht ihm sehr, sehr schlecht! Geht weg!" - "Och...", murmeln die Germanisten enttäuscht, "na gut." Ich höre Flügelschlagen, rieche Schwefeldunst, und erst, als wir allein sind, drehe ich mich um. "Was für'n Stress!", sagt Sabrina und zückt ihr Feuerzeug. Sie ist immer noch so schön wie früher. "Hast du ne Kippe?", fragt sie. "Ich hab im Februar aufgehört", antworte ich. Die Sonne geht auf. Wir haben die Nacht überstanden.


Titelbild

Imre von der Heydt: Rauchen Sie? Verteidigung einer Leidenschaft.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
255 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832179313

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