Lederstrumpf und Siedlerfrauchen

Drei deutsche Erzähler im Umgang mit Kanada-Klischees

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kanada ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sicherlich kein bevorzugtes Thema, aber reizvoll ist es als Sujet allemal, und so bleibt es nicht aus, dass sich auch deutsche Autoren Kanada erschließen. Manche von ihnen, darunter Walter Bauer und Arno Surminski, haben lange in Kanada gelebt; andere mögen es von Urlaubsreisen kennen. Im folgenden seien drei Erzähler vorgestellt, deren Bücher in den 90-er Jahren erschienen sind.

"Schnitters Mall" von Stefan Schütz spielt, wie der Titel schon sagt, in einem der nordamerikanischen Einkaufszentren, "Mall" genannt, und zwar gleich im größten der Welt, in der West Edmonton Mall im gleichnamigen Edmonton im kalten Norden Kanadas. Diese Ladenflucht mit ihren diversen Versorgungseinrichtungen, ihren hunderten von Geschäften, tausenden von Beschäftigten, zehntausenden von täglichen Kunden, bildet einen Kosmos für sich. Hier ausgerechnet geht das Verbrechen um und fordert immer neue Opfer: eine mysteriöse Serie von Vergewaltigungen beunruhigt die Betreiber. Zwei Detektive, der Ich-Erzähler Karl Hare und seine Mitarbeiterin Brenda Barcley, haben die Aufgabe, "Licht [zu] senden ins Dunkel unaufgeklärter Verbrechen und Verfehlungen". Im Verdacht stehen unter anderem die Techniker, die im Bauch des riesigen Labyrinths leben, sich wie eine Horde Affen gebärden und den künstlichen Organismus am Laufen halten. Diese unterirdische Schaltzentrale der Mall ist womöglich auch eine Art Limbus, ein Zwischenreich der untoten Toten und Dämonen, ein Machtbereich des Schnitters und Sensenmanns.

Karl Hare ist als Detektiv ein Klassiker: Halb Sherlock Holmes, beschäftigt mit der Ermittlung und Überführung von Langfingern, halb Sam Spade mit Raucherlunge und einem Quentchen Alkohol im Blut. Er ist cool, aber von Berufs wegen misstrauisch; er schwimmt obenauf, auch wenn er mal nicht Herr der Lage ist; er erzählt seine Geschichte in elliptischen, subjektlosen Sätzen, aber wenn er einer Frau imponieren will, schwallt er wie ein Wasserfall. Von Anfang an ist sein Verhältnis zur Kollegin Brenda geprägt von Erotik, Konkurrenzdruck und -Vorsicht. Seinen Ermittlungen geht er verzweifelt lustvoll und fast ausgelassen nach, und noch seine Begegnungen mit den diversen Angestellten und Kunden der Mall enthalten eine tüchtige Portion (Wahn-)Witz. Der kleine Roman von Stefan Schütz würde einen vorzüglichen Filmstoff abgeben, und ganz entfernt erinnert er auch an die Paranoia im entlegenen Luxushotel von "The Shining" (1980), dem Filmklassiker von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Typisch kanadisch ist dieser utopisch-fantastische Roman, angesiedelt in einer unbestimmten Zukunft, sicherlich nicht.

"Eine richtige Geschichte aus der kanadischen Wildnis" hat Carla zu erzählen, die Hauptfigur in Robert Gernhardts exemplarischer Geschichte "Blanket Creek oder Verwilderte Wünsche". Die Kunsthistorikerin ist ihrem neuen Lebensgefährten Gerd zuliebe, einem in die Jahre gekommenen Banker, zu einem Natururlaub in die Rocky Mountains gefolgt. Die vierwöchige Reise im Wohnmobil, wo die Schlafstelle nicht viel höher ist als ein Sarg, wird für die Paarbeziehung zur Belastungs- und Bewährungsprobe. Ziel der Reise ist neben dem Natur- das Tiererlebnis. Doch mit den Tierbegegnungen in der Wildnis sieht es mau aus - selbst in der Mainmetropole Frankfurt kann man sie heutzutage vielfältiger haben als in den kanadischen Rockies. Die Reise ist, kurz gesagt, ein Schlag ins Wasser. Ein Cojote, zwei Schneeziegen, eine magere Elchkuh mit Fliegen am Hintern ("wunderbare Brummer"), einige Erd- und / oder Streifenhörnchen bilden die magere Ausbeute der Fahrt durch die Nationalparks; Bären scheint es nur noch in der mitgeführten Literatur ("Bear attacks") zu geben. Eigentlich gibt es nichts zu erzählen: "Man fährt weg. Man kommt wieder zurück." Wäre da nicht das Paar, der "Wanderer und Waldläufer" Gerd, ein Quasi-Lederstrumpf, und sein "Siedlerfrauchen" Carla, die gelangweilte Kunst-Frau, die mit ihrem Natur-Mann viel lieber ein Kontrastprogramm in Form einer gemeinsamen Italienreise planen würde. In Kanada jedenfalls gehen sich die beiden fürchterlich auf die Nerven, und als Gerd sich erdreistet, die Bärenangst seiner Gefährtin auszunutzen und ihr einen tüchtigen Schrecken einzujagen, da nimmt sie fürchterlich Rache. Zumindest in der Fantasie. Die Kanada-Klischees, die wir in unsere Köpfen haben, werden hier nacheinander abserviert und als "ausgemachter Schwindel" entlarvt: Wildnis gibt es nicht mehr, sondern nur noch Parks; Rotwild trifft man vor allem in den Vorgärten oder gleich hinter der Polizeiwache an; die Maultierhirschkuh trägt ein Halsband - und um das freilaufende Dickhornschaf hat sich längst eine Menschentraube gebildet.

In einer anderen Liga spielt Wolfram Kerger. Vier Erzählungen werfen uns auf das Klischeebild der Neuen Welt zurück, von dem sich Gernhardt und Schütz bewusst befreit haben. Die erste Geschichte, "Die Graugans", erzählt vom Womenizer Joe, der am Tag vor Silvester seinen Jeep in einen See lenkt, von Eireen vor dem Kältetod bewahrt wird, aber diese "Vollblutfrau" - ausgerechnet! - nicht erobern kann. Denn Eireen hält treu wie die Graugans zu ihrem Mann und folgt ihm in den Tod. Die zweite Geschichte erzählt vom Geldverleiher Jerome, der - Typ Shylock - mit dem Boot aufbricht, um seinem säumigen Schuldner, dem kinderreichen Indianer Jim Tataloo, den Besitz unterm Hintern wegzupfänden. Er gerät jedoch in schwere See, wird vom Indianer-Schuldner gerettet und kommt zum Dank für die Ausbildung seiner Kinder auf. Rührend. "Das Testament" erzählt vom Kampf zweier Männer um die schöne Harfenistin Vivian im kanadischen Rockwater, einem Ort, wo sich Bären und Elche noch "Gute Nacht" sagen. Das hochdramatische Duell geht für alle Beteiligten tödlich aus.

Kergers Geschichten suchen nach Abenteuer und Spannung jenseits der gängigen Klischees, doch erreichen sie ein um das andere Mal das Gegenteil. Dies hängt vor allem mit dem dürftigen sprachlichen Register des Autors zusammen: "Die Frau war mittelgroß, schlank und hatte ein liebliches Gesicht." Sie ist nicht mehr ganz jung, wirkt aber immer noch - na, wie? genau - "mädchenhaft" und hat ein "holdes Wesen". Ihre Augen "leuchten". Ist die Sprache einerseits flach und ausdrucksschwach, so ist sie andererseits überinstrumentiert: wo ein "der", ein "die" oder ein "das" völlig ausreichen würden, steht ein "welcher", eine "diese" oder ein "jenes". In der Erzählung "Das Testament" versucht der Autor sich im "Amtsdeutschen" auszudrücken, was zu unfreiwilliger Komik führt. Kurz, diese Geschichten sind gut gemeint. Gleichwohl liest man sie nicht ungern - auch das Triviale hat seinen Reiz.

Titelbild

Wolfram Kerger: Kanadische Geschichten.
Reimund Maier Verlag, Schweinfurt 1997.
111 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3926300337

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Titelbild

Stefan Schütz: Schnitters Mall. Eine kanadische Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
154 Seiten, 6,50 EUR.
ISBN-10: 3518393553

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Titelbild

Robert Gernhardt: Lug und Trug. Drei exemplarische Erzählungen.
Heyne Verlag, München 2000.
269 Seiten, 7,20 EUR.
ISBN-10: 3453160436

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