Populäre Bilder des Jüdischen

Hanno Loewy versammelt Essays zu Gerüchten über die Juden

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Foto von einem Happening aus Anlass des Weltwirtschaftsgipfels in Davos vom 25. Januar 2003 veranschaulicht, wovon ein von Hanno Loewy herausgegebener Sammelband zum Spannungsverhältnis von Philo- und Antisemitismus im Kern handelt: von der langen Wirksamkeit antijüdischer Bilder, die häufig ebenso willkürlich wie unwillkürlich in der Gegenwart Aktualisierungen erfahren. Auf dem Foto sind als Affen gekleidete Personen mit Masken von Ariel Sharon und Donald Rumsfeld zu sehen, andere sollen Bin Laden und Saddam Hussein darstellen, die um ein aus Pappmaché hergestelltes Goldenes Kalb herumtanzen. Die als Rumsfeld maskierte Affengestalt trägt einen gelben Stern, auf dem kaum lesbar „Sheriff“ steht. Anhand dieses unheimlichen Settings entwickelt Loewy seine einleuchtende These von der Universalisierung antijüdischer Metaphern, die, mindestens in Ländern des Westens, bedingt durch die Tabuisierung des Antisemitismus nach Auschwitz, verschoben ihren Sinn generieren: in der Gestalt des Weltpolizisten Donald Rumsfeld wird die Gestalt des jüdischen Opfers in einen jüdischen Täter verwandelt. Beiden Figuren ist gemein, dass sie zu dem Bilderarsenal des Jüdischen gehören, das über einen Zeitraum von hunderten von Jahren von den christlichen Mehrheitsgesellschaften in Europa über die Juden entwickelt wurde. Der Sammelband fragt nach den gegenwärtigen Aktualisierungen dieser Bilder vor dem Hintergrund eines durch die Globalisierung und komplexe Migrationsprozesse veränderten Europa.

Insbesondere in der doppelten Fokussierung auf Philo- und Antisemitismus und deren komplexes Wechselverhältnis hat der Band Teil an einem neueren Trend der Antisemitismusforschung, der neben den im engeren Sinne antijüdischen Zerrbildern auch das weitere Phänomen einer „Faszination am Jüdischen“ thematisiert. Loewy, Gründungsdirektor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts und seit 2004 Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems, bemängelt in seiner Einleitung zu Recht das bisherige Ausbleiben einer systematischen Analyse des Philosemitismus. Einige der sechzehn Beiträge setzen hier an, wie etwa der Essay von Ruth Ellen Gruber über „Kitsch-Juden“, worin sie überblicksartig das Angebot an folkloristischem Nippes analysiert, das in verschiedenen europäischen Ländern angeboten wird. Insgesamt stellt die Aufsatzsammlung einen Begleitband zu einer Ausstellung des Jüdischen Museums in Hohenems dar, die dort vom 16. Oktober 2005 bis zum 26. Februar 2006 antijüdischen Nippes des Sammlers Gideon Finkelstein präsentierte. Seine besondere Stärke liegt in der Vielfalt der Perspektiven und Themen, die von Antiamerikanismus und Israelfeindlichkeit über die pädagogische Arbeit zur Erinnerung an den Holocaust in verschiedenen westeuropäischen Einwanderungsländern bis hin zur Analyse christlich-fundamentalistischer Milieus reichen. Der gespenstische Philosemitismus der letzteren gilt der Zuneigung zum mythischen Ort Armaggedon – und damit Israel als dem Schauplatz für eine endzeitliche Auseinandersetzung mit dem Antichristen. Gleichzeitig bildet die transdisziplinäre Beschäftigung mit den projizierten Bildern des Jüdischen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus und das sich daraus ableitende, zeitdiagnostische Potential eine zusätzliche Qualität dieses Sammelbandes.

Eine debattengeschichtliche Verortung sowie einen einleitenden Überblick über aktuellen Antisemitismus in Europa unternimmt der Beitrag von Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Sie greift die Frage auf, ob es sich bei der Verwendung antijüdischer Bilder der heterogenen Milieus von Globalisierungskritikern, migrantischen Jugendlichen oder dem israelkritischen Mainstream tatsächlich um einen „neuen Antisemitismus“ handle, dem auch ein im Jahre 2004 von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider herausgegebener Sammelband nachgeht, und verneint sie. Zwar diagnostiziert sie sehr wohl eine mobilisierende Wirkung auf latent vorhandene antisemitische Einstellungen, die der Nahost-Konflikt und seine Medienpräsenz in vielen europäischen Ländern seit Beginn der zweiten Intifada im Oktober 2000 ausübten. Der europaweite Rückgriff auf traditionelle antisemitische Vorstellungen, der seither zu beobachten sei, lege allerdings eher nahe, dass es sich um den ‚alten‘ Antisemitismus handele, der sich jedoch neuer Inhalte bediene.

Der nachfolgende Beitrag des Herausgebers untersucht den Stellenwert der „jüdischen Situation“ innerhalb der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um europäische Identität, Globalisierung und Migration. Dabei gelingt es Loewy im Rückgriff auf Jean Paul Sartres 1945 veröffentlichten, klassischen Essay über die „Judenfrage“, zu zeigen, dass viele europäische Gesellschaften auch nach dem Holocaust Juden gegenüber ein weitgehend ambivalentes Verhältnis kennzeichnet. Zum einen erinnert er an Sartres Argument, Juden steckten zwischen den Ansichten des „liberalen Demokraten“ und des „Antisemiten“ in der Falle: Während der letztere den Juden als Menschen vernichten wolle, ginge es dem Demokraten darum, den Juden zu vernichten, um ihn als allgemeines und abstraktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte zu erhalten. So werde der Demokrat in dem Augenblick zum Antisemiten, in welchem der Jude auf seinem Anderssein beharrt. Noch zentraler ist für Loewy jedoch Sartres Insistieren darauf, dass die Existenz eines jüdischen Staates nicht das Ende der Diaspora bedeute. Im Gegenteil: beide, die Staatsgründung Israels sowie die Fortexistenz der Diaspora verstehe Sartre als „Kundgebungen aufrechten Judentums“. Gegenüber dieser eindeutigen Parteinahme durch den Philosophen würden Juden gegenwärtig jedoch in eine Position des „Dritten“ gerückt. Vor dem Hintergrund einer zögerlichen Entdeckung der Wirkungen vielfältiger Migrationen – und damit auch der miteinander konkurrierenden christlichen und islamischen Fundamentalismen – auf die politische wie kulturelle Zusammengehörigkeit Europas, wiesen die europäischen Gesellschaften ‚den Juden‘ einen verstörend zweideutigen Status zu. So vereinnahme ‚Europa‘ das Jüdische zum einen als zentralen Bestandteil des ‚eigenen‘ kulturellen Erbes, während es Juden andererseits mit Israel als Teil weltpolitischer Konflikte identifiziere und sie daher mit erneuertem Ressentiment zurückweise. Jüdischer Existenz komme so im heutigen Europa die Position eines innerhalb wie außerhalb gegebener Oppositionen stehenden Dritten zu. Dieser Befund knüpft implizit an die Forschungen des Soziologen Klaus Holz an, der die „Figur des Dritten“ bereits für die Funktion „der Juden“ in „klassischen“ antisemitischen Texten unter anderem von Heinrich von Treitschke während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgemacht hatte.

Der Band schließt mit dem Wiederabdruck eines grundlegenden Aufsatzes von Dan Diner, in dem noch einmal zwei zentrale thematische Fäden des Bandes zusammengeführt werden: wie der Nahost-Konflikt auf ‚Europa‘ wirkt und wie die Wahrnehmung des Konflikts mit „antisemitisierenden“, aus der Zerfallsmasse begrifflich gedeckter Vorstellungen des Antisemitismus hervorgegangenen, Partikeln und antisemitischen Bildern aufgeladen wird. In der Metapher vom Sarkophag, der Risse bekommen habe, verdichtet Diner seine These von einem Aufweichen der Tabuisierung des Antisemitismus in Europa, die durch den Holocaust im westlichen Bewusstsein geschaffen wurde. Wie auch in anderen Aufsätzen und größeren Studien beschäftigen den Historiker die Tiefenschichten latenter Überzeugungen, die in aktuellen Konflikten handlungsleitende Bedeutung erlangen. Zum einen analysiert Diner den arabisch-israelischen beziehungsweise palästinensisch-jüdischen Konflikt vor dem Hintergrund zweier nationaler Kollektive als einen Konflikt um Land und um die jeweilige Rechtmäßigkeit des eigenen Anspruchs darauf. Während sich dieser bei den jüdischen Israelis in der Gestalt der Siedlung materialisiere, handle es sich bei dem palästinensischen „Recht auf Rückkehr“ um den Anspruch auf eine Rückkehr zum wie auch immer imaginierten Status quo ante. Beides, Siedlung und Rückkehr, stellen für Diner in unterschiedlich verdichteter Form Embleme der Legitimität und Identität für die sich feindlich gegenüberstehenden Kollektive dar, die pragmatischen Versuchen einer Überwindung des Konflikts im Wege stünden. Eine zusätzliche Verschärfung erhält der Konflikt durch seine Aufladung mit Bildern aus den Tiefenschichten des Westens als säkularisierter Christenheit. So sei es kein Enigma, dass die palästinensische Seite Israel Ablehnung entgegen bringe, wohl aber die zutiefst antisemitisierenden bis antisemitischen Metaphern, mit denen der Konflikt zusätzlich belastet werde. Als Lösung schlägt Diner die Durchtrennung des Gordischen Knotens vor: der israelisch-palästinensische Konflikt sei so zu behandeln, als gäbe es den Antisemitismus nicht, und der Antisemitismus so, als gäbe es den Nahost-Konflikt nicht. Wie wenig das möglich erscheint, so ließe sich anfügen, verdeutlicht die Schwere und Komplexität des Konflikts.

Auch wenn der Sammelband selbst noch keine systematische Analyse des Philosemitismus leistet, so liefert er doch eine Reihe wertvoller Hinweise zu diesem bislang noch nicht ausreichend berücksichtigten Phänomen, das mit dem Antisemitismus in einem komplexen Wechselverhältnis steht und mit ihm seinen grundsätzlich projektiven Charakter teilt. In seiner konsequenten Fokussierung auf Migrationsphänomene und Globalisierung ebenso wie in seinem Wechsel von Innen- und Außenperspektiven auf gegenwärtiges jüdisches Leben in Europa gelingt ein ebenso facettenreiches wie beunruhigendes Bild zur aktuellen europäischen Faszination am Jüdischen.

 

Kein Bild

Hanno Loewy (Hg.): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2005.
368 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3898615014
ISBN-13: 9783898615013

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