Dialog und Poetizität

Irina Wutsdorff untersucht poetische Wahrnehmungsmodelle in den Überlegungen von Michail Bachtin sowie in den Textstrategien der Prager Strukturalisten

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Modelle poetischer Offenheit am Beispiel der tschechischen Avantgarde" - so lautet der Untertitel dieser klar geschriebenen und übersichtlich strukturierten Studie. Die "poetische Offenheit" ist es, die Irina Wutsdorff auch in den Schriften des russischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Michail Bachtin (1895-1975) aufspürt und in ein Verhältnis zu den Ergebnissen und Anregungen des tschechischen Strukturalismus setzt. Dabei gibt es, wie Wutsdorff anführt, nur zaghafte Hinweise, die eine bewusste Rezeption des tschechischen Poetismus und Strukturalismus durch Michail Bachtin belegen. Zu verstellt waren die Wege, die eine unmittelbare Wahrnehmung hätten ermöglichen können.

Neben der Darstellung des tschechischen Poetismus einerseits sowie der ästhetischen Strategien Michail Bachtins andererseits richtet sich Wutsdorffs Blick auf beider Ergiebigkeit vor dem Hintergrund aktueller postmodernistischer Herausforderungen. Auch wenn die tschechischen Poetisten der 1920er-Jahre ihre realpolitischen Hoffnungen auf die Verwirklichung eines authentischen Sozialismus gesetzt hatten, legten sie dennoch ausdrücklich Wert darauf, ihre Kunst von keiner Ideologie vereinnahmen zu lassen.

Wutsdorff bezieht sich auf Jean-Francois Lyotard, wenn sie für die Postmodernisten betont, dass spätestens nach dem Disaster des "real existierenden Sozialismus" auf keine realpolitische Umsetzung eines weltlichen Erlösungsentwurfes etwa im Sinne einer "konkreten Utopie", wie sie zum Beispiel von Ernst Bloch formuliert wurde, mehr Bezug genommen wird.

Gerade weil sowohl Brüche und Verschiebungen, als auch ein offener Sinn in der Postmoderne zu bevorzugten Untersuchungsgegenständen wurden, sieht Wutsdorff hier einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt zu den Versen des Poetismus wie auch zu den Untersuchungen Michail Bachtins. Es gelingt ihr, hier einen roten Faden auszumachen, der in den Rezeptionswirren des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund politischer Umstände immer wieder verschüttet und auch bewusst ideologisch manipuliert worden war.

Dabei fasziniert bei dieser Konfrontation, dass Bachtins Plädoyer für eine Öffnung und Weitung der sinnlichen Wahrnehmung einem Dialogcharakter in der Literatur abverlangt wurde, wie er vor allem in den Roman Dostojewskis anzutreffen ist. Moderner Poesie gegenüber verhielt sich Bachtin deutlich zurückhaltender und somit bilden die Untersuchungen des tschechischen Strukturalismus einen methodischen Gegenpol, da dieser die Polyvalenz sinnlicher Wahrnehmung vor allem in den Werken des tschechischen Poetismus ausmachte.

Irina Wutsdorff entwickelt behutsam die poetischen Vorstellungen sowohl Michail Bachtins ("Bachtins Text- und Kulturmodell") als auch der tschechischen Poetisten ("Die Programmatik des Poetismus"), und legt anhand konkreter Textbeispiele des Poetismus ("Die Poetik des Poetismus - Exemplarische Analysen") herausgearbeitete Unterschiede und Gemeinsamkeiten dar. Der vierte Abschnitt, "Zu einer Poetik des offenen Sinns. Methodologische Schlussfolgerungen", konfrontiert Bachtins Gedanken zur Dialogizität sowohl mit Denkanstößen von Roman Jakobson als auch mit den Vorstellungen des Prager Strukturalismus.

Wutsdorffs umfangreiche Schlussbetrachtung "Die postmoderne Kategorie der Offenheit in der Moderne. Synthetische Avantgarde und Theoriebildung" bündelt die herausgearbeiteten Erkenntnisse und stellt sie Ergebnissen postmodernistischer Autoren wie Jean-Francois Lyotard gegenüber.

Bachtins Bevorzugung des Unabgeschlossenen sowie sein Beharren auf das letztlich materialistisch nicht fixierbare Wesen der Kunst reibt sich an der Analysefreudigkeit der Prager Strukturalisten. Beide Richtungen finden sich jedoch in der unbedingten Anerkennung einer "künstlerischen Kunst", die keinen politischen Ideen, philosophischen Programmen oder religiösen Botschaften zu Willen sein darf, wenngleich sie deren Anregungen zugleich durchaus aufzunehmen und ästhetisch zu verwerten weiß.

Ein weiterer Vorzug dieser Untersuchung besteht darin, dass die Autorin nach einer hervorragend aufbereiteten Hinführung die Ergebnisse anhand konkreter Texte tschechischer Dichter anschaulich anzuwenden versteht. Russische wie tschechische Zitate, die der Konkretisierung von Stichworten dienen, sind von Wutsdorff unmittelbar in das Deutsche übersetzt, so dass auch Nicht-Slavisten ein problemloser Zugang zu den Überlegungen ermöglicht ist.

Die Zielvorstellung der Autorin, die Poetizität tschechischer Avantgarde-Dichtungen anhand ausgewählter Texte nicht nur darzustellen, sondern in weiteren Schritten zu untersuchen, wurde mit ihrer Studie souverän eingelöst.


Titelbild

Irina Wutsdorff: Bachtin und der Prager Strukturalismus. Modelle poetischer Offenheit am Beispiel der tschechischen Avantgarde.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
256 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770541829

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