Verständnis und Fremdheit

Janice Kulyk Keefer sucht kanadische Wurzeln im russischen Kiew

Von Ulrike GerhardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Gerhard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eva versucht, Dans Gesicht zu berühren, dieses liebe, freundliche Gesicht, das ihr so vertraut ist wie die Bemalung des Küchengeschirrs. Er schüttelt ihre Hand ab. 'So einfach ist es nicht', sagt er. Eva weiß nicht, ob er damit ihrer beider Beziehung, ihr Zusammenleben meint oder die Reise, die sie vorhat."

Dieses Zitat drückt die Schlüsselworte aus, die die Erzählung über Eva Chown, ihr scheinbar geordnetes, glückliches Leben und eine zugesteckte Fotografie wie einen roten Faden durchziehen: Nähe und Distanz, Verständnis und Fremdheit.

Eva begibt sich auf eine Reise mit dem Ziel, ihre Vergangenheit und wirkliche Herkunft aufzuklären. Allerdings klingt dies fast schon zu pragmatisch, handelt es sich doch um das Aufdecken unbändiger Leiden- und Liebschaften. Manchmal erscheint die Geschichte sogar zu banal oder konstruiert, doch wird sie in so wunderbare Worte gepackt, von so unterschiedlichen Perspektiven erzählt und fast unbemerkt mit einigen geschichtlichen Zusammenhängen bestückt, dass sie den Lesenden vollkommen ergreift und in Höhen wie Tiefen mitreißt. Dabei reisen wir zwischen Toronto, Kiew und Porcupine Creek hin und her, tasten uns geradezu detektivisch Stückchen für Stückchen an die Geschichte heran, die erst zum Schluss vollständig begreifbar wird. Insofern ist Janice Kulyk Keefer ein Meisterstück an Erzählkunst gelungen, das dem Lesenden höchste Aufmerksamkeit abverlangt, aber auch großes Vergnügen bereitetet.

Die Erzählung beginnt mit einem Vorspann im Kiew der Gegenwart, wo ein Chronist, der im Laufe der Erzählung nur eine marginale Rolle spielt und dennoch die Fäden in der Hand hält, zu Wort kommt. Wir springen zurück in den Park, die 'grüne Bibliothek' Kiews im Jahr 1941 und erleben eine kurze Episode, die den Lesenden zunächst im Unklaren darüber lässt, um welche Personen und Zusammenhänge es sich hier handelt. Erst dann gelangen wir nach Toronto, die Stadt, in der die Geschichte eigentlich spielt und ihren Anfang nimmt. Denn hier lebt Eva Chown mit ihrem Lebensgefährten Dan, seiner Tochter Julie und ihrem Sohn Ben in einem großen Haus. Sie scheinen ein normales Leben zu führen, Eva arbeitet als engagierte Kindergärtnerin, Dan besitzt ein kleines Reisebüro. Nur ihre Mutter Holly ist - wohl altersbedingt - verwirrt. Jener zugesteckte Brief jedoch mit einem Foto, das eine junge Frau mit einem Jungen abbildet, der ihrem Sohn Ben unbestreitbar ähnlich sieht, bringt zum Vorschein, dass nicht alles so normal ist, und dass Eva eine Vergangenheit besitzt, die sie nun einzuholen beginnt.

Somit begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit, deren Ungewissheit an ihr zehrt und ihr kanadisches Alltagsleben vollkommen unwichtig erscheinen lässt. Sie ist besessen von dem Drang, die Herkunft ihres wirklichen Vaters aufzuklären. Relativ schnell stößt sie dabei auf eine Fährte, die sie nach Kiew in der Ukraine führt, ein Land, das von verschiedenen Besatzern (Bolschewiken wie Nazis) gebeutelt wurde und unvorstellbares Leid bei der Bevölkerung angerichtet hat. Noch heute leben die Menschen dort im Vergleich zu Kanada in tiefer Armut und Trostlosigkeit und träumen vom "Goldenen Westen": "Nur einmal im Leben möchte sie die Grenze in den Westen überschreiten, in diese Weltengegend, die sie sich wie einen gigantischen Swimmingpool in Kalifornien vorstellt." Wenn solche Wünsche auch die westliche Perspektive der Autorin nicht verleugnen lassen, erfahren wir doch Wertvolles über die Umstände der Ukraine und das Grauen von Krieg und Vertreibung, das einem in Evas Aussprüchen unter die Haut fährt, etwa: "Tschernosom, denkt sie. Wie heißt die Sorte Erde, die aus Menschenknochen entstanden sei?" So entpuppt sich auch Evas Vater als ein DP, eine sogenannte "displaced person", den es auf noch unbekannte Weise nach Kanada verschlagen hat.

Zentral bleibt die Liebesgeschichte: "Sie beugt sich so hinab, daß ihre Lippen die Luft ganz nahe an seiner Stirn, seinem Kinn, der Ausbuchtung seiner Kehle berühren. Und auf einmal greift er nach ihr, zieht sie herunter." Natürlich ist dieses Glück nicht von Dauer, sondern wie "eine Spieldose, die nur einmal aufgezogen werden kann, und selbst dann nur ganz vorsichtig, damit die Feder nicht bricht." Es endet also mit Schmerz - aber warum das alles? Eva will nur das eine: "Daß die Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebt und braucht, deren Leben untrennbar mit dem ihren verbunden sind, so lange unter ihrem Dach versammelt sein sollen, wie sie bleiben wollen." Ein wohl holder Wunsch, der aber nicht zu erfüllen ist. Deshalb begeben wir uns immer wieder auf eben solche Reisen.

Das eigentlich Kanadische an diesem Buch ist das Leitmotiv der ethnischen Identität. Kanada ist ein Land von Einwanderern aus den verschiedensten Winkeln der Welt. Jede Gruppe besitzt ihre eigenen Geschichten, Traditionen und Vergangenheiten, die jedoch bei den schon länger im Land lebenden Einwanderungsgruppen im kanadischen Alltag nur oberflächlich zutage treten. Dennoch versuchen Schriftsteller zunehmend, auf diese Vergangenheit, auf dieses kulturelle Erbe hinzuweisen, es zum Vorschein zu bringen. Schriftsteller einer Generation, die selber ihre ursprüngliche Heimat nie kennengelernt haben. Warum verschaffen sie ihr gerade jetzt so viel Gehör? Liegt es vielleicht daran, dass in dem wohlhabenden, prosperierenden Land Kanada, das im Weltvergleich der Lebensstandards weit oben rangiert - noch vor der Bundesrepublik Deutschland und den USA -, diese ältere Generation bald aussterben wird und damit ein Teil ihrer Geschichte, die Bausteine des viel gerühmten "ethnischen Mosaik", ebenfalls verloren geht?

Dennoch stellt sich auch die Frage, ob diese Stimmen, die Vergangenheit und das sogenannte Heimatgefühl nicht romantisieren. Spiegeln sie wirklich die Gefühle und Empfindungen der heute jungen Kanadier wider? Außer einigen kulinarischen Gerichten, die überdauert haben und heute sogar in Form von Fast Food angeboten werden, ist den meisten ihre ethnische Herkunft zwar bewusst, sie spielt jedoch in Ausdruck und Lebensstil kaum mehr eine Rolle.

Gelungen ist Janice Kulyk Keefer dagegen die Darstellung des zum Teil nur begrenzten Wissens der Nordamerikaner über ferne Länder. Das gilt für die weit zurückliegende, aber auch für die jüngere Geschichte. Tschernobyl ist zwar ein Begriff, aber die damit verbundenen Schrecken sind nur wenig vorstellbar. Sie werden eher in Form von Witzen über "grüne Schneeflocken, die einem die Zunge verätzten" verarbeitet bzw. verdrängt. Bei Tschernobyl muss Eva an Tschernosom denken, "die schwarze Erde, von der sie im Erdkundeunterricht gehört hat, wobei sie sich etwas Üppiges, Dunkles wie Schokoladentorte vorstellt". In Kiew fühlt sie sich wie ein Neugeborenes, das völlig unwissend, unselbständig und abhängig von ihrem einheimischen Begleiter ist, da sie weder Sprache, noch Zeichen oder Gesten verstehen kann. Ihre täglichen Sprachübungen in den ersten Tagen ihrer Begegnung sind eher Teil des Liebesspiels als des wirklichen Bemühens, die fremde Kultur zu verstehen, obwohl sie mit ihr gefühlsmäßig verbunden ist.

Spannend sind auch einzelne Beobachtungen der ukrainischen Kultur. So klärt Olexa sie über Besonderheiten der Sprache auf: "Für 'Arschloch' gibt es auf ukrainisch keine wörtliche Entsprechung. Wir würden 'tschobi ti sdoch' sagen, was so in etwa 'Du sollst verrecken' heißt. Unsere Flüche haben meist mit Krankheiten, nicht mit Sex zu tun: zum Beispiel 'cholera'." Einfach ist dagegen "ich liebe Dich" - "Ja tebe ljublju". Ein Motto, das weltweit verstanden wird und das auch uns durch diese fesselnde Erzählung führt.

Titelbild

Janice Kulyk Keefer: Die grüne Bibliothek. Aus d. kanad. Engl. v. Astrid Arz.
Piper Verlag, München 1999.
373 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3492040349

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