Da liegt der Hase im Pfeffer

In Henning Ahrens' "Tiertage" wollen Männer und Rammler immer nur das eine

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Frühsommertag in der niedersächsischen Provinz: Um der gähnenden Langeweile zu entfliehen, versammeln sich einige Bewohner einer mittelgroßen Stadt auf der Dachterrasse der örtlichen Buchhandlung. Ihr Ansinnen: Der Lesung eines aufstrebenden Autors zu lauschen, der Passagen aus seinem mittlerweile dritten Roman zu Gehör bringen soll. Dieser steht, die wenigen Eintreffenden skeptisch beäugend, lässig an das Edelstahlgeländer gelehnt. Die Zeit bis zum Beginn der Veranstaltung verrinnt, die Zahl der Interessierten nimmt nicht merklich zu. Da plötzlich die Stimme des Autors - hier könne er nicht lesen, hier werde er nicht lesen; spricht's, misst mit langen Schritten den Weg bis zur Tür aus und verschwindet. Allenthalben betretene Gesichter, ein hastig das Eintrittsgeld rückerstattender Buchhändler, ein angespannt lächelnder Lektor, einige potentielle Zuhörer, die ob der Grandezza der Pose noch immer glauben, es sei alles Teil einer ausgetüftelten Inszenierung und der Autor werde sicherlich gleich wieder auftauchen - doch das tut er nicht. Klingt wie der Beginn eines Romans? Nicht ganz; vielmehr war dies die Reaktion des ob des mangelnden Publikumsinteresses echauffierten Autors Henning Ahrens; was dieser den Braunschweigern nicht vorlesen mochte, war sein unlängst erschienener Roman "Tiertage":

Ein schwüler Sommertag in der niedersächsischen Provinz: Um der Hitze und der gähnenden Langeweile zu entfliehen, versammeln sich einige Bewohner des Dorfes Sarsum am örtlichen Baggersee. Rudolf Wolters, ein nicht gerade vom Erfolg verwöhnter Maler unkonventioneller Stillleben; seine ziemlich frustrierte Frau Emmi; Viktor Hoppe, ein Englischlehrer, der gerade von seiner (angeblich) schwangeren Freundin verlassen wurde, sowie Miranda Schmid, Gattin eines viel beschäftigten Anwalts und Mutter zweier Söhne. Zwei prominente Sarsumer hingegen sind abwesend: Asta Frey, erfolgreiche Dozentin für Selbstmanagement-Seminare, die weniger unter ihrer gerade erst vollzogenen Trennung leidet als vielmehr darunter, dass ihre beiden Töchter bei deren Vater in Berlin leben - und schließlich Madsack, ein von diversen Kindheitstraumata verfolgter Außenseiter und (selbst-)erklärtes enfant terrible des Dorfes.

Doch das ist nur ein Teil des Personals; der andere besteht aus dem rolligen Rammler Mr. Allyours und seiner ständig werfenden Gattin, dem Moral predigenden Reiher Fledgling McFeather, dessen kriminellen russischen Cousin McPeacock und nicht zuletzt der aufreizenden Häsin Lady Why. Warum die Fauna in der niedersächsischen Provinz englische Namen trägt, die an "Peter Rabbitt" oder "Der Wind in den Weiden" erinnern, wird wohl das Geheimnis des promovierten Anglisten Ahrens bleiben - warum diese so vergleichsweise unoriginell sind, wohl auch. Dass es sich dabei um sprechende Namen handelt, thematisiert die Gattin Allyours' ('Ganz-der-Deine') gegen Ende des Buches selbst, als sich ihre Vermutungen erhärten, dass es der ihr Angetraute mit der ehelichen Treue wohl nicht so genau nimmt. Der falsche Hase ist nämlich hinter der Häsin Lady Why ('Dame Warum') her, einem jugendlichen, partyliebenden Fell-Luder, der das Karnickel in einem Anflug von hormonal bedingter Unzurechnungsfähigkeit in die Pfote verspricht, den "Wilden Mann" dingfest zu machen, einen Unbekannten, der scheinbar wahllos unschuldige Tiere dahinmeuchelt. Was der liebestolle Rammler sich davon verspricht, verrät bereits seine jägersprachliche Bezeichnung und zählt nicht unbedingt zu den gelungensten Wortspielen des Buches.

In der Liebestollheit hingen zeigt sich die kreatürliche Gleichheit von Hase und Mann: Von seiner Frau mittlerweile nur noch gelangweilt, versucht Wolters, sich ins Herz von Miranda zu malen; nachdem seine bisherigen Stillleben sie jedoch nicht zu überzeugen vermochten, stellt sein Meisterstück nun ein Arrangement mit Hasen dar, wobei dieser (wer hätte es gedacht?) Mr. Allyours ist, der sich frei- und bereitwillig porträtieren lässt. Doch auch Viktor ist nach dem Scheitern seiner Beziehung anlehnungsbedürftig und macht - ohne nennenswerten Erfolg - ebenfalls Miranda den Hof, die dadurch zum dörflichen Objekt der Begierde avanciert. Weitaus unproblematischer gestaltet sich das Liebesleben Madsacks, dessen regelmäßige Aufenthalte in einem Sex-Club und gelegentliche Besuche einer stundenweise buchbaren Dame zumindest seine Libido in der Balance halten.

Unterstützt von seinem Freund dem Reiher, der sich nicht nur hervorragend in abendländischer und asiatischer Philosophie auskennt, sondern - welch Glückes Geschick! - auch auf wundersame Weise des Schreibens mächtig ist, alarmiert Mr Allyours die Polizei, um dem zwischenzeitlich gar zum Pferderipper mutierten "Wilden Mann" sein blutiges Handwerk zu legen. Als sich herausstellt, dass zumindest der Mord an einem Reitpferd vom schlafwandelnden Viktor verübt wurde, ändert Meister Lampe seinen Plan, stiehlt zusammen mit dem Federvieh das Bild aus Wolters Haus und macht es der wenig beeindruckten Lady zum Geschenk. Die verschmäht selbiges ebenso wie den enttäuschten Karnickelbock und macht sich davon. Während Allyours daraufhin in den heimischen Bau zurückkehrt, endet die Ehe der Wolters weniger glücklich: Bei einer Spritztour nach Hildesheim, die neuen Wind in ihre Beziehung bringen soll (die Absurdität dieses Unterfangens dürfte selbstevident sein), kritzelt Emmi eine kurze Botschaft auf eine Skizze ihres Mannes: "Ich trenne mich von uns" - dreht sich um, verlässt Wolters ebenso wie Sarsum und geht nach Berlin. An keiner anderen Stelle des Romans setzt Ahrens seine erzählerischen Mittel mit größerer Ökonomie ein: Es gelingt ihm nicht nur die gesamte Misere der Wolters'schen Ehe in einem einzigen Satz zu fassen, sondern auch Emmis Gemütslage, fern ab von abgegriffenen Klischees, eindrucksvoll auf den Punkt zu bringen.

Obgleich der Maler Wolters kaum als zentrale Identifikationsfigur des Romans fungiert, so ist seine Kunstauffassung der des Autors dennoch nicht unähnlich: "er hatte nie viel davon gehalten, sich in der Wallburg der Kunst zu verschanzen, sondern stets versucht, die Gegenwart in Gestalt von Dingen in seine Bilder zu holen." Im Fall von "Tiertage" bedeutet dies, dass sich Ahrens' Figuren über die aktuelle Szene in Berlin echauffieren, ebenso wie über die wettbewerbsverzerrenden Dumpingpreise der Tchibo-Hausmarke TCM; der Handy-Wahn der Jugend wird kritisiert, die heilsversprechende Selbstmanagment-Sucht der wirtschaftlichen Führungsriege persifliert, zeitgenössische Kunst von Neo Rauch bis Lucian Freud kommentiert, intertextuelle Verweise auf Laurence Stern, Paul Celan, Gottfried Benn und Ted Hughes integriert. Dabei legt Ahrens seinen Charakteren Worte in den Mund, die häufig zwischen moralinsauer und besserwisserisch-dozierend mäandern, die jedoch in der Uniformität der Diktion die (wahrscheinlich angestrebte) Individualität der Figuren unterminieren. Bei aller Aktualität der Lebenssituation und Probleme wirken die menschlichen Sarsumer häufig hölzern-unnahbar, wohingegen die tierischen Bewohner so menschlich erscheinen, dass man sich fragt, warum der Autor sie überhaupt in Tiergestalt auftreten lässt.

Sprachlich besitzt Ahrens eine besondere Vorliebe für Onomatopoetika, die sich im Verlauf des Romans zum Manierismus steigert: Rasensprenger "tuckertuckern", Blitze "fauchzucken", eine Stimme "murmelsingt" und der Reiher "schlabberschlürft" seinen Tee - auf Dauer wirken diese scheinbaren Reminiszenzen an Kinderbücher allerdings ebenso angestrengt wie anstrengend. Auch Humor scheint Ahrens' Sache nur bedingt zu sein: Wenn etwa McFeather sieht, wie sich Viktor übergibt und konstatiert: "Er reihert", so reicht dieses vermeintliche Bonmot kaum über das Niveau eines flachen Kalauers hinaus und auch Mr. Allyours' (recht intensive) Beobachtung des mittlerweile masturbierenden Viktor ist nur bedingt amüsant, zumal wenn sich der Hase über den "Rammelstecken" des Menschen auslässt, obgleich er selbst doch nur an die "Rammelritze" der angehimmelten Häsin denken kann.

Insgesamt präsentiert sich "Tiertage" als "magisch-realistische" Kombination aus Tierfabel, Kinderbuch, Kriminalroman und zeitkritischem Sittengemälde. Mit wie viel Vergnügen man den Roman lesen wird, dürfte maßgeblich davon abhängen, ob man gewillt ist, sich auf die Mr.-Allyours-Handlung einzulassen und ob man Gefallen an den häufig allzu menschlichen Tieren zu finden vermag. Sollte sich jedoch die Gelegenheit bieten, den Autor selbst aus seinem Werk lesen zu hören, so sei unbedingt angeraten, diese wahrzunehmen, vermochte Ahrens doch schon bei seiner Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Publikum wie Jury gleichermaßen mit seinen Lesekünsten zu begeistern. Mit etwas Glück wird er auch wirklich lesen.


Titelbild

Henning Ahrens: Tiertage. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
282 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100005267

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