Geborgte Utopien gegen die Ratlosigkeit

Mit "Ach Glück" setzt Monika Maron die Geschichte der Johanna Märtin aus "Endmoränen" fort

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein wunderlicher Anfang, dachte ich." Mit diesen Worten endet der letzte, 2004 erschienene Roman von Monika Maron. In "Endmoränen" zieht Johanna Märtin, Mitte 50, eine ernüchternde Lebensbilanz. In ihrem Beruf - dem Verfassen von germanistischen "Gebrauchtstexten" wie Autobiografien, Rezensionen, Vor- und Nachwörtern - sieht sie keinen Sinn mehr, und ihre Ehe mit dem Kleistexperten Achim steckt in einer Sackgasse. Schon bereit, sich abzufinden mit einer öden "Restlebenszeit", trifft sie den russischen Galeristen Igor, mit dem sie eine Nacht verbringt, und außerdem findet sie auf einem Autobahnparkplatz einen Hund. Vor allem diese letzte Begegnung markiert für Johanna am Ende des Romans den "wunderlichen Anfang". Ein Ende, das nach einer Fortsetzung geradezu verlangt, wie auch Johannas "einfache Frage: was soll nun werden, als ihre Ideen für ein eigenes Leben aufgebraucht scheinen" die Autorin weiter beschäftigt. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung ("Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche") beschreibt Monika Maron die Suche nach einem erzählerischen Konzept, das den Fortgang von Johannas Geschichte trägt, und ihr neuer Roman "Ach Glück" setzt genau da an, wo "Endmoränen" aufgehört hat.

Vier Monate, nachdem sie den Hund Bredow (nach der gleichnamigen Autobahnausfahrt, an der sie ihn gefunden hat) mit nach Hause genommen hat, haben sich für Johanna alle Gewohnheiten und Gewissheiten aufgelöst. Sie sucht die Veränderung, will keine ihr vollkommen unnütz erscheinenden Gebrauchstexte mehr verfassen, unternimmt mit dem Hund nächtliche Streifzüge durch die Stadt, womit sie an frühere Gewohnheiten anknüpft, und arbeitet vorübergehend als Aushilfe in Igors Galerie. Währenddessen steht Achim, ein "moderner Kentaur, halb Schreibtisch, halb Mann" diesen Veränderungen ziemlich ratlos gegenüber. Ähnlich ratlos vielleicht wie die Leserinnen und Leser, die Johannas Reflexionen, ihren nüchternen und boshaft witzigen Erkenntnissen in "Endmoränen" gerne gefolgt sind. Denn auch wenn (oder gerade weil) an mehreren Stellen im neuen Roman Johannas Motivation ausdrücklich erklärt - und leider nicht erzählt - wird, wird die Hauptfigur nicht lebendig, liest sich der Roman eher wie eine Skizze, ein fortgesetzter Versuch über die elementaren Fragen des Lebens - und die Antworten werden gleich mitgeliefert.

Dabei ist die Exposition überaus spannend: Der "völlig normalen" Johanna mit dem ereignislosen Leben, die diese Rolle nicht mehr spielen und sich womöglich selbst zuallererst damit überraschen will, "eine ganz andere" zu sein, stehen eine Reihe interessanter Figuren zur Seite, die das Thema des Romans variantenreich spiegeln: Was ist ein gelungenes Leben? Welche Entscheidungen bestimmen einen Lebensweg und hätte es Alternativen gegeben? Wer könnte ich sein, wenn ich nicht so zaudernd, sondern ein kleines bisschen mutiger gewesen wäre?

Da ist die hochbetagte Natalia Timofejewna, eine ehemalige russische Aristokratin, die die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Exilkreisen in Paris und Mexiko in der illustren Gesellschaft von "Trotzkij und Kisch, Seghers, Diego, Frieda" verbrachte - eine aufregende, lebendige Zeit, bis sie mit einem deutschen Kommunisten in die DDR zieht, wo sie fünfzig sehr unaufregende Jahre als Natascha Zimmermann verbringt - "fünfzig Jahre ein fremdes Leben", wie es in "Ach Glück" heißt. Und ebendiese Natalia wird durch einen Bericht über ihre damalige Freundin Leonora Carrington "zurück ins Leben gerufen", nach Mexico City, wohin ihr Johanna schließlich folgt. Auf der Suche nach Leonora streift Natalia quasi als Johannas Stellvertreterin oder Vorbotin durch diese laute, bunte, lebendige, sinnliche Stadt, ein Sehnsuchtsort, der selbst Halbtote zum Leben erweckt, in einem Land, in dem sich neunzig Prozent der Bevölkerung für glücklich hält. Sirenengleich schildert sie Johanna in zahlreichen Briefen beziehungsweise Emails ihre Eindrücke.

Und da ist das "Phantom" Leonora Carrington, die surrealistische Malerin, exzentrisch, eigensinnig, radikal und immer sich selbst und ihren Visionen treu. Ein Beispiel für ein "gelungenes Leben" und - auf ihre ganz eigene Art - auch eine Dame mit Hund, wie Johanna, nur dass sie auf dem berühmten Selbstporträt mit einer Hyäne "mit prallem Gesäuge" posiert und deren bekanntester Roman "das Hörrohr" eine phantastisch-bizarre Utopie entwirft, deren Protagonistinnen alte Frauen sind.

Dieser Projektion folgt Natalia, auf der Suche nach der lebendigsten Zeit ihres Lebens. Und Johanna folgt Natalia, die sie nicht persönlich, nur aus den Briefen kennt. Sie sitzt im Flugzeug auf dem Weg nach Mexiko, quasi zwischen den Welten, zwischen dem alten, verbrauchten Leben und einem unbekannten neuen. Währenddessen spaziert Achim - ausnahmsweise einmal nicht am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Welt - durch Berlin, auf der Suche nach einer Erklärung für den Aufbruch seiner Frau. Und Erklärungen bekommen er und die Leserinnen und Leser auch geliefert: von Igor, den er in der Galerie aufsucht, hauptsächlich, um sich zu vergewissern, ob dieser mit Johanna nach Mexiko geflogen ist, und von seiner Tochter Laura. Erklärungen, die auf den Verlust der Liebe, den Überdruss an eingeschliffenen Gewohnheiten und dem Fehlen von Glück hinauslaufen. Oder, wie Johanna selbst es - in einem von Achims Rückblicken - ausdrückt: Es geht um Liebe. Um Liebe und die Fähigkeit, glücklich zu sein. Beides verkörpert der Hund auf eine elementare Art und Weise und er spiegelt Johanna, was in ihrem Leben fehlt.

Die Autorin setzt ihre Figuren in Bewegung - Natalia in Mexiko, Achim in Berlin, macht sie zum Sprachrohr für Sein und Möglichkeit, Vergangenheit und Zukunft, während Johanna auf ihrem Flugzeugsitz eingepfercht ist. Natürlich ist es geschickt, andere Erzählperspektiven zu wählen und nicht Johanna, wie in "Endmoränen", als Ich-Erzählerin auftreten zu lassen. Nur leider bleibt diese Figur dadurch etwas blass, vermittelt sich ihre Motivation nicht wirklich. Was auch daran liegt, dass die Vorgeschichte im ersten Roman schon erzählt ist und die Autorin in "Ach Glück" vieles raffen beziehungsweise verkürzen musste, um sich nicht zu wiederholen. So treten auch Figuren wie Johannas Freundin Ellie oder Igor in "Ach Glück" ganz ähnlich der Hauptfigur wie Schatten ihrer selbst auf. Oder, um es mit Johannas eigenen Worten zu sagen: Sie ist ihrem "Schicksal als Füllmasse", wie sie im Roman Hannes Strahl, einem weiteren Beispiel für ein gelungenes Leben, erklärt, vielleicht zu treu - sie diene mal hier, mal da, sagt Johanna, "und jetzt gerade Natalia Timofejewna, die ein richtiges Schicksal hatte".

Ob sie findet, wonach sie sucht, bleibt offen, am Ende des Fluges - und des Romans - landet Johanna in Mexiko. Ein anderer "wunderlicher Anfang", aber ein Kreis hat sich nicht wirklich geschlossen, eher steht die Figur noch immer dort, wo sie am Anfang war - für einen ganzen Roman ist das leider ein bisschen wenig. Es scheint, als hätte die Autorin der - wenn auch gebrochenen - Elegie der "Endmoränen" partout etwas Positives entgegensetzen wollen, aber am Ende droht Johannas fast brachialer Wille zur Veränderung ins Leere zu laufen. Geborgte Utopien taugen nicht wirklich als Gegenentwürfe, und so überwiegt die Ratlosigkeit.


Titelbild

Monika Maron: Ach Glück. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
218 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100488206

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