Wysterischer Realismus

Vorstadtfrauen, Werbefernsehen: Augusten Burroughs' Roman "Teleshop" liest sich wie ein Mittwochabend auf ProSieben

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vorspann der 1970er-Jahre-Sitcom "Mary Tyler Moore" endet mit einem markanten, superschönen Bild: Mary hat eben ihre Heimatstadt verlassen. Stieg ins Auto, fuhr weg, fing ganz von vorne an. Allein. Jetzt sehen wir sie an einem Zebrastreifen in Minneapolis. Es wird grün. Mary läuft los, und plötzlich schleudert sie in einem spontanen Freudentanz ihre Strickmütze in die Luft, mitten auf der Straße, mitten in der anonymen Masse. Und sogar die chauvinistische Tonspur schmettert versöhnlich: "You might just make it after all", kleines hilfloses Mädchen.

Das ist die Szene, auf die ständig verwiesen wird. Der große "Mary Tyler Moore"-Moment im kollektiven Pop-Bewusstsein. Augusten Burroughs kennt diese Bilder, hat sie in den 1970er-Jahren wahrscheinlich sehr, sehr oft gesehen. Auf der letzten Seite von "Krass!" (2002), dem Erinnerungsbuch seiner Pubertät, erklärt er seine gesamte private Lebensphilosophie dieser Jahre am "Mary Tyler Moore"-Vorspann. Doch dabei geht es nicht um den Freudentanz auf der Straße. Sondern um eine andere, ganz ephemere Szene: "Im Vorspann von Mary Tyler Moore sieht man Mary im Supermarkt durch die Gänge eilen. Sie bleibt vor dem Fleischregal stehen, holt ein Steak heraus und sieht auf den Preis. Dann verdreht sie die Augen und wirft es trotzdem in ihren Einkaufswagen. So ähnlich kam ich mir vor. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Aber, Augen verdrehen, was soll man machen? Achselzucken. Ich warf das Fleisch in meinen Einkaufswagen. Und ging weiter." Abspann.

So läuft das bei Augusten Burroughs: Ein Schwelgen in der Alltagskultur, im halbvergessenen Pop-Trash. Ein bitteres Schwelgen in grellen und grellsten amerikanischen Vorstadtfarben. Und immer glaubt man zu wissen, was als nächstes kommt. Und immer kommt es tatsächlich. Aber: noch dicker, noch schräger. Noch krasser. Psychologische non sequiturs, zotige "What the Fuck?!?"-Momente, Figuren jenseits von Gut und Böse. Die Welt von Augusten Bourroughs ist so überzeichnet, dass die Klischees zu etwas Neuem, etwas Besseren werden: zu grellbunter Wahrhaftigkeit. "Bittersüß" trifft dabei es nur unzulänglich: das "Bitter" ist tiefschwarz und ätzend. Und das "Süß" hat den Plastikgeschmack von Mais-Sirup und NutraSweet. Sehr, sehr lustige Bücher! Und sehr, sehr amerikanische.

"Teleshop" (im Original "Sellevision", erschienen 2000) ist Burroughs erster, und bislang einziger Roman. Ort der Handlung: Ein quotenstarker Verkaufskanal in der Nähe von Philadelphia. Die Figuren: vier junge Moderatoren, jeder mit eigenem Handlungsstrang. Peggy Jean, konservative Übermutter und Perfektionistin, wird von anonymen E-Mails belästigt und schlittert in die Alkoholsucht: "Und auch wenn die Haare auf Ihren Ohrläppchen vielleicht verschwunden sind: Sie sind immer noch eine HAARIGE Schlampe mit einem SCHNURRBART!". Quotenmagnet Bebe, eine neurotische Ulknudel in den besten Jahren, durchlebt eine Reihe schlimmer Dates: "Ich weiß, dass es zu früh ist, um dir zu sagen, 'ich habe mich unheimlich in dich verliebt'. Aber ist es in Ordnung, wenn ich sage, dass ich mich unheimlich in dich vergernt habe?" Nachwuchstalent Leigh schläft mit dem Senderchef: "Howard versicherte ihr, dass sich alles zwischen ihnen ändern würde, sobald der Scheidungsprozess in Gang gebracht war." Und Max wurde eben gefeuert, weil ihm während der "Spielspaß"-Kindershow der Penis aus dem Bademantel hing. Der schwule Beau versinkt in Selbstmitleid und entscheidet sich schließlich für eine skurrile Zweitkarriere (ja, genau was Sie jetzt denken!).

Kritiker-Kratzbürste Stephan Maus hasst Burroughs' Satiren. Er verriss die Trinker-Beichte "Trocken!" (2003) als "abgestandenes Sex-and-the-City-Gefasel" und schrieb: "Burroughs gilt als Meister des schwarzen Humors. Warum eigentlich? Doch wohl nicht wegen seiner billigen Masche, autobiographisch verheulte Erzählungen aus dem vermeintlich verrückten Leben eines durchschnittlich extravaganten New Yorkers mit ein paar vorhersehbaren Gags zu würzen?" Maus' zentrale Kritikpunkte? "Billig", "durchschnittlich", "vorhersehbar".

Trifft das zu? Im Jahr 2000, als Burroughs mit "Sellevision" debütierte, eher nicht. Dafür ist sein Stil zu süffig. Dafür gibt er sich viel zu viel Mühe, um Seite für Seite neue Pointen zu liefern (auch, wenn einiges arg unsubtil und hölzern dabei wirkt). Jetzt, 2007, mag man Maus viel eher zustimmen. Denn "Teleshop" liest sich wie ein müdes Best-of der (realen und fiktionalen) skurrilen TV-Momente der letzten fünf Jahre. Figuren, Pointen und eine Erzählstimme, die eins zu eins aus "Desperate Housewives" (2004) entnommen scheinen - obwohl Burroughs viel früher da war. Außerdem "Weeds"-Momente, "Dirt"-Momente, ganz viel Daytime-Trash und, als Knaller zum Schluss, eine "wardrobe malfunction", bei der einer hübschen Moderatorin vor laufender Kamera die Nippel aus dem Kleid rutschen.

Grellbunte Wahrhaftigkeit: "Max drückte erneut auf die Fernbedienung. Auf dem History Channel kam etwas über Nazideutschland, auf dem Discovery Channel zuckte ihm eine Zebravulva entgegen, auf Comedy Central gab es einen Feuerschluckerhund, und auf HBO lief 'Titanic II'- schon wieder. 'Überall Wasteland wie bei T.S. Eliot, überall die reine Kulturwüste', dachte er, 'aber in genau diese Kulturwüste gehöre ich.'"

"Teleshop" charakterisiert seine Figuren durch und durch medial: "Peggy Jean fand in der 'Springfield Story' einen wundervollen, hochgeistigen Hintersinn, ganz anders als in 'Schatten der Leidenschaft', das war einfach nur Schund." Google erklärt: "Springfield Story" ist die älteste US-Soap überhaupt, "Guiding Light" (seit 1937). "Schatten der Leidenschaft" ist die jüngste US-Soap, "The Young & the Restless" (seit 1973). GL: christlich, provinziell, gemächlich. Y&R: laut, urban, extrem erfolgreich. Burroughs selbst erklärt nichts davon. Er weiß: Seine Zielgruppe kennt das schon längst. "Teleshop" ist ein Buch für Daytime-Gucker.

Ein Buch, das man vor sieben Jahren noch mit Gewinn hätte lesen können. Heute erscheint es passé. Dumpf und platt und doof vorhersehbar, allenfalls von (trash-)historischem Wert: Burroughs' Fiktion ist der missing link zwischen den schwulen Kinosatiren Ende der 1990er ("The Opposite of Sex", "Happiness") und den schwulen Fernsehsatiren von jetzt: "Desperate Housewives", "Ugly Betty", "Dirty Sexy Money". Schön, dass es das gibt - lesen muss man es nicht. Nur zwei (nebensächliche) Dinge machen richtig Spaß: der Sinn für skurrile Details, in denen Burroughs seine realsatirische Waren- und Medienwelt wie nebenbei eskalieren lässt (Peggy Jean zu ihrem apathischen Teenagersohn: "Weißt du, ich habe früher auch mit Silly Putty gespielt. Manches ändert sich eben nie." - "Das ist kein Silly Putty, das ist Plastiksprengstoff." Themawechsel, Schnitt!). Und ein supergeschmackloser Subplot über vermeintlichen Kindesmissbrauch, der "Lolita" perfide auf die Spitze treibt.

Prima, dass Augusten Burroughs seit "Teleshop" keinen Roman mehr geschrieben hat. Sondern nur noch Kolumnen, Glossen, Autobiografisches. Grellbunt, klar. Aber trotzdem viel näher dran an der eigenen, privaten schwulen Vorstadt-Alltagsmisere. Und deshalb: viel spannender. Auf Burroughs' offizieller Website gibt es ein Fotoalbum. Neuengland-Bilder mit seinen kugeligen Hunden und seinem kugeligen Freund, ein Essay von Burroughs' autistischem Bruder, schnell findet man auch die Website seiner psychotischen Mutter und ihre Lyrik, die sie an die Rollstuhlrampe vor ihrem Haus heftet. Wie lebt sich das? Wie lesit sich das? Burroughs zeigt es uns! "Teleshop" ist mittlerweile längst ein fertiges Drehbuch; Julia Louis-Dreyfus ("Seinfeld"), Kristin Davis ("Sex and the City") und Carrie Fisher (eben in "Weeds") wollen mitspielen. Man weiß schon, wie das aussieht später. Was da für Bilder kommen. Freudentanz-Bilder. Und keine seltsamen Steak-Vergleiche.

In den "Housewives" würde jetzt die körperlose Stimme von Mary Alice Young durch die Wysteria Lane säuseln: "Ja, Augusten Burroughs war ein Archäologe des Alltags. Doch eines hatte er beim Verfassen seines ersten Buchs noch nicht begriffen: dass es nicht reicht, über den perfekten Rasen der Nachbarn zu gehen und dabei aufzuschreiben, was man sieht. Nein: erfolgreich wurde Augusten Burroughs erst, als er sich nachts in ihre Hinterhöfe schlich, mit einer großen, großen Schaufel." Dramatisch anschwellende Hintergrundmusik: "Und als er endlich verstand: die allerschönsten Funde macht man oft auf eigenem Grund und Boden." Ausblende.


Titelbild

Augusten Burroughs: Teleshop.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
288 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-13: 9783499241086

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