Die Zeit befragen

Alex Capus' neuer Roman über Gewöhnlich-Ungewöhnliches im kolonialen Afrika

Von Oliver GeislerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Geisler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vorgaben sind überbordend viele, will man - wie der französisch-schweizerische Autor Alex Capus - 2007 einen Text über Kolonialismus, Faszination des Fremden, Gewalt und Krieg im eroberten Afrika schreiben: Joseph Conrads "Heart of Darkness" ist nur ein frühes, wenngleich überaus wirkmächtiges Beispiel für das literarische Interesse an dem ,dunklen Kontinent', dass dem europäischen kolonialen Begehren als ein literarisches auf den Fuß folgte. Ganz zu schweigen von den Autoren, die eifrig und nicht selten affirmativ den kolonialen Bestrebungen vorauseilten oder zumindest begleitend zur Seite standen. Auch wenn die die literarische Auseinandersetzung und Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit vor allem in (post-)kolonialen angloamerikanischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Erinnerungskulturen statt findet, so gibt es doch immer wieder Beispiele deutschsprachige Geschichten des Kolonialismus. Uwe Timms "Morenga" war 1978 Vorreiter; jüngst widmete sich überraschenderweise der Comiczeichner Gerhard Seyfried der lange geleugneten deutschen Kolonialvergangenheit in seinem Buch "Herero".

Nicht genug, dass es zahlreiche Romane und Reiseberichte gibt. Zur Literaturgeschichte als Vorgabe für Capus' Roman gesellen sich dann vor allem zahlreiche wissenschaftliche Initiativen der letzten Jahrzehnte, die historischen Vorgänge in ihren politischen, soziologischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen zu rekonstruieren und zu bewerten. Das heutige Wissen von den ,Laboratorien der Gewalt' in Afrika und Asien ist vor allem Ergebnis intensiver historiografischer und kulturwissenschaftlicher Forschungen. Verdienstvoll und grundlegend sind hierbei die Arbeiten im Kontext des Bochumer Instituts für Diaspora- und Genozidforschung. Systematisch und akribisch wurden die Verbrechen im ehemaligen Deutsch-Ostafrika erforscht und die historischen Bedingungen von Ausbeutung und Vernichtung in Arbeiten zu ,Feindschaft' oder den ,Reden von Gewalt' untersucht. Und auch die Literatur, als koloniale Unternehmungen mitgestaltender und reflektierender Faktor befindet sich zunehmend im Zugriff kulturwissenschaftlicher Forschung. Erst kürzlich erschien Medardus Brehls Dissertation "Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur", die umfassend über die Rolle der Literatur bei der Durchsetzung kolonialer Interessen informiert. Ganz zu schweigen von Filmen, Photographien, selbst Musikstücken und Karikaturen, die die kolonialen Eroberungen medial begleiten. In dem kolonialen ,Text' spiegeln sich die destruktiven Potentiale der Moderne. Und rückblickend auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erscheinen die Ereignisse in Afrika sowie deren narrative Aufarbeitung als Seismographen und Auftakt dessen, was die späteren Gewaltexzesse in Europa ausmachen sollte.

All das liefert den Hinter- und Untergrund für den neuesten Roman von Alex Capus. Der Text geht zurück auf historische Personen und Ereignisse am Tanganika-See am Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zu dessen Ausbruch. Auf angenehme Weise gelingt es Capus, sich bis auf wenige Anspielungen von den literarischen Traditionen der (post-)kolonialen Literatur zu emanzipieren. Von weitaus geringerem poetischen Selbstbewusstsein ist allerdings Capus' Verhältnis zu historischen Quellen und deren Aufarbeitung. Wie zur Absicherung und Authentifizierung begleiten die Veröffentlichung eine beigegebene CD-ROM und ausführliche Informationen auf der Homepage des Autors; die Innenseiten des Einbands zieren Karten mit den Reiserouten der Protagonisten. Dem bereitgestellten Bildmaterial und einer Chronik ist es aufgetragen, den Erzählakt mit der Macht der Fakten, zumal der visuellen, zu beglaubigen. Dadurch wird aber die wirklich überzeugende Sprache Capus' gleichsam überlagert und verdrängt. Durch eine ständige Rückversicherung eignet Capus' Text eine eigentümliche Mischform. Gemeint sind nicht die eingeschobenen und typografisch abgehobenen Passagen aus realen Briefwechseln - ein fast schon klassisches Element historischer Romane. Aber mitunter finden sich Floskeln, die eher an wissenschaftliche Aufsätze erinnern und die poetische Sprache stören. Als Beispiele: "Wie in Gustav von Zimmers Rapporten nachzulesen ist..."; oder: "Auf dem Bild, das im Archiv des Imperial War Museum in London verwahrt wird". Inmitten wunderbar poetischer Sätze findet sich der nüchterne Verweis auf die Quellenlage im Freiburger Militärarchiv. Fast scheint es, als würde Alex Capus dem Erzählen und der Literatur bei der Verhandlung von Geschichte nicht trauen. Vielleicht sind diese Sätze aber auch Spuren und Überreste eines mühsamen Arbeitsprozesses, in dem sich der Autor von der eingangs skizzierten Kolonial- und Kriegsgeschichte Afrikas und deren kulturell-wissenschaftlicher Aufarbeitung befreien musste, um seinen literarisch interessierten Blick auf diesen Zeit-Raum richten zu können.

"Eine Frage der Zeit" ist eine Befragung der Zeit; und zwar der Zeit eines Übergangs und des logischen Ineinandergreifens von Kolonialismus und Krieg. Der Erste Weltkrieg bedeutet eine völlige Neuordnung der Verhältnisse am Tanganikasee, jenem Ort, an dem die verschiedensten Erzählstränge und Figuren zusammenfinden. In die kolonialen ,Routinen' von Gewalt und Verwaltung bricht die Nachricht vom Beginn des Krieges ein und macht aus einer europäischen Interessengemeinschaft der Kolonisatoren Vertreter feindlicher Parteien. In diesem historisch sensiblen Moment wird alles eine Frage der Zeit, denn es gilt für die Briten und die Deutschen, in militärischer Hinsicht angriffs- und verteidigungsfähig zu werden. Und der Roman lässt keine unschuldigen Personen zurück; alle werden Teilhaber an diesem bellizistischen Milieu. Der norddeutsche Werftarbeiter Anton Rüter und seine Mitstreiter erhalten den Auftrag, ein Schiff von Deutschland aus an den Tanganikasee zu transportieren. Zunächst erscheint dies als eine Geschichte von ,gewöhnlichen' Männern, bei denen sich Abenteuerlust mit der Aussicht auf ein gutes Einkommen und ein Häuschen im Grünen verbindet. Aber diese Männer betreten eben ein äußerst prekäres Areal zu einem historisch brisanten Zeitpunkt. Zunehmend werden die drei Norddeutschen in die kolonialen und militärischen Vorhaben in Afrika verstrickt. Der Schiffstransport entpuppt sich als ein wichtiger Beitrag zu Sicherung kolonialer Ansprüche. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird dieses Schiff sogar militärisch bedeutsam. Und dann gibt es da noch die wirklich gelungene Gegenfigur des englischen Soldaten Spencer, der einen ganz eigenwilligen Beitrag zu Capus' Kolonial- und Kriegsgeschichte bedeutet. All dies verdichtet sich zu einem Szenario, in dem "gewöhnliche Menschen [...] ungewöhnliche Dinge tun" (Alex Capus).

In diesem Roman tritt unter der Oberfläche des Gewöhnlichen das Außerordentliche hervor, liegt hinter dem Gesagten das Unsägliche verborgen. Denn Capus erzählt nicht nur die Geschichte von gewöhnlich-ungewöhnlichen Europäern, sondern auch von dem, was diese Männer anrichten, wenn sie in eine Zone außerhalb der europäischen Ordnung versetzt sind. Es finden sich Bestrafungstechniken, Ausbeutung, Gefangenschaft und Gewalt angedeutet - aber nie ausbuchstabiert. Der Autor verbleibt in den Perspektiven der Eroberer und deren Helfern, setzt aber Signale, die eine andere Geschichte mitführen. Auch die Namen der auf dem Tanganika-See vorkommenden Schiffe künden von vergangenen Verbrechen an den Afrikanern, ohne diese ganz in die Geschichte von neugierigen deutschen Werftarbeitern und einem skurrilen englischen Soldaten zu integrieren. Der Roman blickt aber nicht nur zurück oder deutet die Gegenwart der Gewalt an; es treten auch Person auf, deren Karrieren bis zu den Nationalsozialisten reichen werden. Auch dies wird behutsam und versteckt angetippt, aber nie handlungsrelevant. Erzählt wird vielmehr ein spezifisches Milieu, eine koloniale Situation: jenes Geflecht aus persönlicher Faszination gegenüber dem Fremden, Ideologie, Nationalismus, Militarismus und Ökonomie, die die - heute bekannten - Verbrechen hervorbrachten.

Durch Capus' subtiles Anzitieren von Verborgenem als Leser derart sensibilisiert, sollte sich der Blick auf das richten, was nicht erzählt wird: der Roman beginnt mit einem "Nachspiel", das den Protagonisten Anton Rüter "blind und irr vor Erschöpfung" zeigt. Und die Uniform, "die in Fetzen an ihm herunterhing, war ein phantastisches Sammelsurium aus den Schlachtfeldern, über die er geflohen war." Zwischen dem Ende des Romans und diesem vorangestellten Nachspiel tut sich eine Leerstelle auf, die dem Unerzählbaren, der destruktiven Rückseite des ,Gewöhnlichen' Raum gibt. Mit dieser erzählerischen und immer auch semantischen Pointe steht "Eine Frage der Zeit" dann doch nahe an dem Klassiker von ,leeren Flecken' bzw. ,blank spaces' der unerzählbaren Gewalt: Joseph Conrad. Das tut der Qualität des Romans aber keinen Abbruch, sondern verweist nur darauf, dass eine Befragung der Zeit von Kolonialismus, Krieg und Gewalt die Autoren immer wieder an einen Punkt führt, wo das Erzählen still gestellt wird, da die körperliche Erfahrung beginnt. Diese kann mit keiner Quellenrecherche eingeholt restlos werden. Muss sie auch nicht, denn auch so - in den Grenzen der Sprache - kann etwas eingefangen werden von dem, was zu einem gewissen Zeitpunkt der Geschichte durch Krieg und Kolonialismus angerichtet wurde. Und Alex Capus ist es gelungen, einen an den Poetiken der Moderne geschulten, historischen Roman zu schreiben, der viel und schön erzählt, der aber auch dem Leser aufgibt, selbst die Zeit zu befragen.


Titelbild

Alex Capus: Eine Frage der Zeit. Roman.
Knaus Verlag, München 2007.
304 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783813502725

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