Der Roman zum Gemälde

Philippe Besson erfindet in seinem Roman "Nachsaison" eine herbstlich melancholische Geschichte von Bindungen und Trennungen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann im Anzug sitzt in Phillie's Bar. Auf dem Barhocker neben ihm sitzt eine Frau im roten Kleid. Durch die elegant geschwungene, riesige Panoramafensterfassade der Bar hat der Betrachter den Eindruck, in ein Aquarium zu blicken. Der Barkeeper hantiert unterhalb der Theke, leicht gebeugt, vor dem Mann und der Frau - die beiden anschauend oder diskret an ihnen vorbeiblickend? Ein weiterer, einzelner Mann sitzt mit dem Rücken zum Betrachter am anderen Schenkel der langen Bar. Philippe Besson entlehnt diese Szene, ihr Personal und ihren Raum, Edward Hoppers vielleicht berühmtestem Gemälde: 'Nighthawks' von 1942. Der französische Autor fingiert in seinem Kurzroman 'Nachsaison' eine Geschichte, die die melancholische Stimmung von Hoppers Bild, seine zwischenmenschlichen Distanzen und seine Atmosphäre nächtlicher Einsamkeit aufnehmen soll. Das ist ihm durchaus gelungen.

Hoppers transparentes Bar-Aquarium verortet 'Nachsaison' auf Cape Cod, näherhin: in Chatham, einem weniger illustren Ort auf der schicken Halbinsel bei Boston. Zu Beginn sitzt die erfolgreiche Theaterautorin Louise allein in der Bar. Es ist September. Allerdings nicht 1942, sondern nahe an unserer Gegenwart, wie man an Indizien wie den Mobiltelefongesprächen Louises, dem Armani-Anzug Stephens oder auch an den 50 Cent für die Jukebox bald registriert. Der Touristenrummel der Hochsaison ist vorbei. Mit dem Barkeeper Ben ist Louise seit neun Jahren gut bekannt. Doch bewahrt der Barmann, zumindest äußerlich, die berufsnotwendige Distanz und Diskretion auch gegenüber seinen Stammgästen. Sie wartet hier auf ihren Geliebten, den Schauspieler Norman. Der hat ihr versprochen, an diesem Abend die Trennung von Frau und Kind zu vollziehen, damit er ganz für Louise dasein kann. Anstelle des Geliebten, der sich natürlich nicht so problemlos von seiner Gattin trennen kann, wie er sich das in seiner Naivität vorgestellt hat, erscheint überraschend Stephen in Phillies Bar.

Stephen war bis vor fünf Jahren mit Louise zusammen. Sie hatten die Bar einst gemeinsam entdeckt bei Ausflügen in das Wochendhaus der reichen Juristen-Familie von Stephen. Und nun beginnt die heikle, so vorsichtig wie befangen tastende Wiederannäherung zwischen dem Paar, das sich einst leidenschaftlich liebte. Sie haben sich fünf Jahre nicht gesehen, nachdem Stephen Louise für eine bessere, wiewohl langweilige (mithin: bürgerlichere) Partie verließ. Mit dieser Frau hat der erfolgreiche und elegante Anwalt nun zwei Kinder, doch die Ehe ist gescheitert. Mit einer feinen Dramaturgie der Andeutungen und mit großem Gespür für Verletzungen, Wünsche, Träume und Gefühle skizziert der Roman nun die Seelenlandschaften und Liebeswege dieser Frau und dieses Mannes. Philippe Besson bekannte in einem Interview, er interessiere sich leidenschaftlich für die Bindungs- und Loslösungsprozesse in Beziehungen und vor allem für das, was davon übrig bleibt und fortlebt. Diese Spurensuche nach der Präsenz der Abwesenden kennzeichnet die meisten seiner Bücher.

'Nachsaison' gelingt es, die Attraktion und Repulsion des getrennten Liebespaars aufgrund ihrer unterschiedlichen Temperamente und vor allem ihrer unterschiedlichen Herkunftsmilieus mit knappen Zügen plastisch zu vergegenwärtigen. Das Vermögen, die Harvard-Manieren und die bürgerliche Honoratiorengesellschaft von Stephens Familie standen stets in spannungsreichem Kontrast zur Theaterwelt der Selfmade-Woman Louise.

Der Aufbau dieses Kurzromans ist so simpel wie wirkungsvoll: der Zeitrahmen der Erzählgegenwart umfasst die paar Abendstunden in der Bar. Zwei oder drei knappe Dialogsätze zwischen dem ehemaligen Paar oder zwischen einem der beiden und dem Barkeeper werden gerahmt und unterfüttert durch längere Rückblenden des Erzählers im style indirect libre. Vergangene Ereignisse und Emotionen der drei Protagonisten werden, gespiegelt in deren Bewusstsein, evoziert. Die wenigen, schüchternen Sätze des Bar-Trios kontrastieren den viel größeren Echoraum gefühlsgeladener Innenwelten. Das kurze, halb zufällige Wiedersehen in der transparenten Hopper-Bar öffnet sich zu den dunkleren und schleierhaften Abgründen der Lebensgeschichten hin. Freilich werden in Bessons kristalliner Prosa auch diese Rückblenden auf die gescheiterten Beziehungen nicht in epischer Breite ausgefaltet, sondern in einzelnen Momenten und Reflexionen blitzlichthaft ausgeleuchtet.

Nach der gängigen intermedialen Zweitverwertung wie ,dem Buch zum Film', 'dem Soundtrack des Films' oder 'der Verfilmung des Bestsellers von...' haben wir hier also einen Fall des (trotz des Erfolgs von Tracy Chevaliers 'Mädchen mit dem Perlenohrring' nach Vermeer) noch seltenen Crossovers: 'den Roman zum Bild'. Der Roman wurde von Besson übrigens Patrice Chereau gewidmet, "dem ich die Bildschöpfung meiner Worte verdanke". Chereau verfilmte 'Sein Bruder', den zweiten Roman dieses 1967 geborenen Schriftstellers. In Frankreich hat Besson eine Rolle als Stimme und Atmosphären-Dichter der Generation der Thirtysomethings, die vielleicht der Judith Hermanns hierzulande vergleichbar ist. Nur schreibt er offenbar schneller. Im Original ist 'Nachsaison' als Bessons dritter Roman schon 2002 erschienenen und wird auf Deutsch jetzt erst nach zwei weiteren schon übersetzten Büchern ('Eine italienische Liebe' und 'Brüchige Tage') nachgereicht. Mittlerweile hat Besson sein achtes Buch in gerade einmal sieben Jahren vorgelegt.

Ob sich aus dem Text zum Bild wiederum gut ein Film machen ließe (wie dies schon mit vier seiner Romane geschehen ist), darf bezweifelt werden. Weitgehend lebt die Erzählung von Innenwelten und Erinnerungen, zu gering dürfte der Anteil dramatischer Handlung sein. 2004 wurde der Text mit seinem prototypischen Setting eines Kammerspiels allerdings in Paris fürs Theater und offenbar auch als Hörspiel adaptiert. Als ein Beschreibungskünstler von - durchaus filmisch abgetasteten - Oberflächen, von Kleidern, Bewegungen und Mimiken zeigt sich der Stilist, der von sich behauptet, nach Gehör und nicht nach dem Gesichtssinn zu schreiben, freilich auch hier.

Die Einbildungskraft des gelernten Juristen Besson - der vor seiner steilen Schriftstellerkarriere offenbar gleichermaßen erfolgreich als Personalvorstand für die Firma der Präsidentin des französischen Unternehmerverbandes tätig war - nimmt ihren Ausgang regelmäßig von historischen Vorlagen. Nach seinem erfolgreichen Start mit dem Roman über die homoerotische Liebe eines jungen Mannes aus dem Umkreis Marcel Prousts ist es hier das berühmte Bar-Gemälde Edward Hoppers, aus und zu dem Besson eine hintergründige Geschichte erdichtet. In seinem Roman 'Zerbrechliche Tage' waren es die letzten Lebensmonate des symbolistischen Dichters und Afrika-Abenteurers Arthur Rimbaud, die Besson aus der (imaginierten) Tagebuch-Perspektive von Rimbauds provinziell und jungfräulich gebliebener Schwester erzählen ließ.

Bessons Poetik der kondensierenden Verknappung zielt auf eine Intensivierung der Gefühle und Stimmungen. Im Gegensatz zu Marcel Prousts berühmten lang ausschwingenden Phrasen orientiert sich Bessons Prosa und wohl auch seine Psychologie eher an den knappen, ausgekühlten Sätzen der amerikanischen Geschichten von Carver & Co.. Caroline Vollmann hat diese betont einfache Sprache in ein adäquat schlankes Deutsch übertragen. Das in ein kühles Aquariumsgrün gepackte Buch (auf dessen Cover natürlich Hoppers Ikone des Lebensgefühls einer American Coolness gedruckt ist), publiziert in der großzügigen Premium-Reihe von dtv, ist ein melancholisches Kammerstück über die Reste einer ehemaligen Liebe; eine stimmungsvolle Lektüre für einen dieser länger werdenden Herbstabende.

Ob das Buch beunruhigt, irritiert und aufwühlt, wie es Besson als seine Wirkungsästhetik (und als seine persönliche Alternative zur engagierten Literatur) formuliert hat, sei dahingestellt. Wie Edward Hoppers soeben ins Rentenalter eingetretenes Gemälde nähert sich Bessons literarische Wiederbelebung dem Dekorativ-Sentimentalen auf so bedrohliche wie reizvolle Weise. Aber auch diese Grenzgängerei macht einen Teil der Attraktivität dieser Literatur aus. Wie im filmischen Melodram ist in der stimmungsevozierenden und gefühlsanalysierenden Literatur die Stunde der wahren Empfindung meist nur einen Wimpernschlag oder eine Träne entfernt vom Absturz in den Kitsch. Doch noch dieser Umschlag lässt sich, spätmodern, wiederum feiern: als Camp.


Titelbild

Philippe Besson: Nachsaison. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Caroline Vollmann.
dtv Verlag, München 2007.
156 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783423245975

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