Stuckrad bei den Schwätzern

Ute Paulokat schreibt in ihrer Monografie "Literatur und Medien in der Popmoderne" über Benjamin von Stuckrad-Barre

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"'Pop' wurde immer tendenziös verwandt", schimpfte Benjamin von Stuckrad-Barre 2006 in einer Diskussion mit Thomas Meinecke, Eckhard Schumacher und Kerstin Gleba: "Und zwar von Leuten, die überhaupt nichts von Pop verstehen, mit denen ich niemals irgendwo abends nebeneinanderstehen würde. Es klang immer wie Behindertenparkplatz oder Kinderteller. Das war immer ne Beschimpfung, ne Degradierung, das 'Literatur' dahinter war immer schon lächelnd, das war immer schon relativiert durch das 'Pop'."

Dieses Gespräch steht am Ende eines Buches, das im Frühjahr 2007 als tausendster Band der KiWi-Taschenbuchreihe erschien. "Pop seit 1964" ist ein großformatiger, silberverspiegelter Ziegelstein voller Texte von Christian Kracht, Rainald Goetz, Rolf Dieter Brinkmann, Andreas Neumeister, Hubert Fichte, Moritz von Uslar und Alexa Hennig von Lange. Eine genaue Definition von "Popliteratur" wagte der breitgefächerte Reader indes nicht: "Die Verbindung von Pop und Literatur", so das Vorwort von Schumacher und Gleba, sorge "schon seit mehr als vierzig Jahren für Ärger. Es kommt zu Missverständnissen, Streitigkeiten und kurzzeitigen Schulterschlüssen. [...] Was genau in diesem Zusammenhang Pop heißt, ist dabei ebenso umstritten wie die Frage, was eigentlich Literatur ist. Pop und Literatur, kann man das eigentlich sagen? Sind Pop und Literatur zwei Paar Schuhe? Bilden sie eine Schnittmenge oder sind sie, richtig verstanden, vielleicht sogar ein- und dasselbe? Aber was ist dann Popliteratur?"

Legitime Fragen. Und dabei völlig nutzlos. Denn es gibt nur zwei Sorten Leser, die ernsthaft nach Antworten darauf suchen: Erbsenzähler mit staubigem Literaturverständnis, die sich Etikettierungen wünschen und Definitionen, Lektüreschlüssel, literarische Verbindlichkeit und klare, deutliche Aussagen. Jener Lesertypus, der so lange Sekundärmaterial sichtet und seine Umgebung mit Grundsatzdiskussionen bedrängt, bis er sicher weiß, ob zum Beispiel Krachts "Faserland" vom Autor als "zutiefst ironisches" Buch "gemeint ist" oder - hinter all der vordergründigen Ironie - als "zutiefst ernstes". Brave, misstrauische Pedanten, heillos überfordert von all diesen Brüchen, Subtexten und Ambivalenzen im Erzählen der Jetztzeit ("Nein, Xena ist nicht lesbisch! Sie hatte doch mal was mit Ares!").

Und dann die zweite, entschieden lustigere Sorte überforderter Leser: Zauselige, völlig hilflose Idealisten, die so lange Sekundärmaterial sichten, bis sie nicht nur sicher wissen, dass sie zurecht völlig ratlos sind, sondern auch, wie tief sämtliche anderen Zettelkästen ihrer Welt in wüster Unordnung stecken: Germanisten. Ute Paulokat, geboren 1977, promovierte 2006 in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft in Mannheim über eine der kontroversesten, am schwersten greifbaren Autorenfiguren überhaupt: "Benjamin von Stuckrad-Barre. Literatur und Medien in der Popmoderne" heißt ihre Dissertation; "Irgendwas ist dran an diesem Autor", schreibt sie, "das lässt sich allein angesichts des sowohl positiven als auch negativen Bohei, der um ihn gemacht wird, nicht bestreiten." Mehr fällt ihr nicht ein. Denn "mehr", das wäre nach Germanistenmaßstäben wahrscheinlich schon wieder These und Haudrauf, subjektiv und Teufel-an-die-Wand.

Entsprechend zarte Erwartungen braucht man für diese Stuckrad-Barre-Analyse: Zwar klopft die brave Doktorandin tatsächlich sämtliche Einzelpublikationen ab, inklusive Lesungsmitschnitten und Audio-CDs wie "Bootleg" und "Poesiealbum", den Fernsehformaten "Lesezirkel" und "Stuckrad bei den Schweizern" und Herlinde Koelbls Kokain-und-Magersuchts-Doku "Rausch und Ruhm" (und widmet, ausführlich und boulevardesk, sogar Stuckrad-Barres Beziehung zu Anke Engelke ein eigenes Kapitel). Und trotzdem ist es auf diesen 300 Seiten nicht weit her mit großen Thesen und gewagten Gedanken, frechen Vergleichen und mutigen, schönen und neuen Gedankengängen. Der Autorin scheint Stuckrad-Barre sympathisch, das schon. Aber große Aha-Momente, einen echten Gewinn, den sucht man beim Lesen vergebens.

Entschädigung - und letztlich auch fast Trotzdem-Lektüreargument - sind die Unmengen von Zitaten, die Paulokat herausgesucht hat. "Mich irritiert jetzt schon, wenn mir Mädchen nach einer Lesung erzählen, dass sie ein Referat über mich halten mussten oder dass etwas von mir in einem Schulbuch abgedruckt ist", zitiert sie eingangs Stuckrad-Barre. Und legt doch sofort los, mit ihrer fleißigen bunten, klug ausgewählten Presseschau. Besonders schön ist ein Diktum Ijoma Mangolds aus Zeiten der endlosen "Ende der Unschuld"-Debatten nach dem 11. September: "Der Popliterat ist nicht ausgestorben. Wenn es ihn heute nicht mehr gibt, so war sein Abgang ein autonomer Akt der Selbstauslöschung, ein kunstvoll inszenierter Selbstmord. Denn die moralische Geschäftsgrundlage des Popliteraten war nicht die Spaßgesellschaft, sondern seine Leidensfähigkeit in ihr: Er durfte den Glanz der Oberfläche nur deshalb feiern, weil ihm die Leere dahinter wie keinem Zweiten zusetzte."

Auch Stuckrad-Barre selbst springt oft als Erklärer und Exeget ein, in klug gewählten Interviewausschnitten: "Gerade bei meinem Buch Soloalbum habe ich gedacht: Das können die Leute doch nicht ernsthaft denken, dass ich das jetzt 1:1 sagen möchte. Ich dachte, das wäre schon übertrieben genug. Ich möchte über diesen Menschen schreiben, der immer lauter wird, je unsicherer er wird. Und scheinbar immer sicherer in seinen Aussagen wird, je weniger er begreift. [...] Er zentriert sich von sich weg, statt einfach das eigene Sozialleben mit der gleichen Schärfe zu analysieren. Und darum ging es mir. Zu zeigen, wie Menschen ihre eigenen Probleme ignorieren, um sie dann bei anderen zu suchen."

Dass eine Dissertation mit dem Untertitel "Literatur und Medien in der Popmoderne" die ersten hundert Seiten langatmig an den Begriffen "Pop" und "Literatur" herumdefiniert, ohne irgendwo anzukommen, war abzusehen. Dass es die letzten 100 Seiten lang - mit ähnlich begrenztem Erkenntniswert - um "Literatur und Medien" geht, sowieso. Trotzdem taugt Paulokats Begriffsarbeit - wenn auch nicht in Sachen Stuckrad-Barre - doch als verhältnismäßig flotte, dichte Einführung in die Literaturgeschichte des (deutschen) Pop. Paulokat hat den Diskurs gesichtet, abgetippt und hübsch gebündelt, statt ihm irgend etwas Tieferes, Neues abzutrotzen:"Die multimediale Selbstinzenierung und die Eventisierung der Literatur sind die textexternen Kernpunkte von Popliteratur", schließt sie ihre Arbeit und zeigt: "Das immer wieder neue 'Re-Modelling' des Schriftstellers Stuckrad-Barre entlarvt die Kritik der älteren Feuilletonisten als rührend engstirnig und naiv." Dann zitiert sie Jan Karsten vom "titel"-Magazin: "'Der in der Talkshow auftretende Autorendarsteller ist wichtiger als sein Werk', empört sich Matze Politycki. Falsch, der mit seinem Buch in der Talkshow auftretende Autorendarsteller ist bereits das (Kunst-)Werk. Stuckrad-Barre ist zur virtuellen Figur geworden, ist multipler Patchwork-Boy, popmoderner Dandy, pubertierender Geschmacksterrorist, Entertainer, stinknormaler Langweiler, Comedy-Autor, um Anerkennung bemühter Literatur. Diese Inszenierung des eigenen Lebens als Kunstwerk ist gelungen und wird geliebt." Ja, ist klar. (Und jetzt? Und dann?).

Ute Paulokat schließt ebenso allgemein wie kleinlaut: "Dass ein Popliterat wie Stuckrad-Barre in die Autorenexistenz eine Art von Medienprofessionalität hineingetragen hat, die man Autoren vorher weder zugetraut noch zugeordnet hätte, kann als das eigentlich Subversive und Provozierende angesehen werden. [...] Die Notwendigkeit der Inszenierung stellt sich der Literatur schon lange. Popliteraten und andere, vornehmlich junge AutorInnen der Gegenwart nutzen sie lediglich umfassender und mutiger als bisher. Damit sichern sie zu einem großen Teil die Zukunft ihrer Zunft." Und Schluss.

Begrenzter Erkenntniswert, zweifelhafte Begriffsarbeit: Die Autorin spricht von "ehemals" journalistischen Texten, "bei denen die Grenzen zum Literarischen immer mehr verschmelzen und Realität und Fiktion so lange vermischt werden, bis sie zur Kunst werden." Das scheint ihr vor allem eine editorische Frage, denn sobald Stuckrad-Barre solche "ehemals journalistische Texte, hauptsächlich Reportagen für diverse Zeitungen und Zeitschriften" in einem Buch abdruckt, werden sie "damit in den Rang der Literatur erhoben."

Muss das sein? Dieses kleinliche Grenzenziehen? Dieser Zettelkastenquatsch? Da hilft nur ein Zitat von Stuckrad-Barre selbst: Journalismus bedeutet für ihn nicht, "dass ich irgendwohin gehe, etwas abgeklärt und ironisch beobachte und dann pünktlich meine 80 Zeilen abliefere. Es interessiert mich nicht nur, wie's da ist, sondern auch, wie ich reagiere, ich möchte immer neu überfordert werden." Ja, supergut, Überforderung, unbedingt! Nur bitte, bitte endlich Schluss mit dieser "Goldlöckchen und die drei Bären"-Haltung der Pop-Exegeten! Immer ist Pop diesen Leuten viel zu ungreifbar und kompliziert. Immer ist Pop diesen Leuten viel zu simpel und unliterarisch. Wenn es um die Suche nach passenden Schubladen geht, weiß keiner von denen mehr, was er eigentlich hatte sagen wollen.


Titelbild

Ute Paulokat: Benjamin von Stuckrad-Barre. Literatur und Medien in der Popmoderne.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
358 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631557051

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