Fragmentarisierte Lebenserfahrungen

Warum Doris Lessings Romane komplexer sind, als die Kritiker meinen

Von Angela KrewaniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Angela Krewani

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Verleihung des diesjährigen Nobelpreises für Literatur hat einige - medial perfekt inszenierte - Irritationen hervorgerufen. Der Tenor der Kommentare konzentrierte sich auf zwei vorgebliche Charakteristika des Schreibens von Doris Lessing: Feminismus und fehlende stilistische und inhaltliche Komplexität. Ohne die recht prototypische Koppelung von Feminismus und fehlender Komplexität weiter zu hinterfragen, soll an dieser Stelle den "feministischen" Aspekten von Doris Lessings Werk nachgegangen werden.

Die Homepage der BBC dokumentiert Interviews und Aussagen, in denen ihr insbesondere von jüngeren Kolleginnen fehlendes feministisches Bewusstsein und offensichtliche Kameraderie mit dem männlichen Geschlecht vorgeworfen wurde. Anlass war Lessings Äußerung in einem jüngeren Interview, in dem sie anmerkte, Männer seien heute allerlei Formen weiblicher Willkür ausgeliefert. Im Interview mit der "New York Times" distanzierte sie sich schon zu Anfang der 1980er-Jahre deutlich vom Feminismus: "Die Feministinnen verlangen von mir einen religiösen Akt, den sie nicht genauer untersucht haben. Sie wollen, dass ich Zeugnis ablege. Am liebsten möchten sie, dass ich sage: 'Ich stehe auf eurer Seite, Schwestern, in euerm Kampf für den goldenen Tag, an dem all die brutalen Männer verschwunden sind.' Wollen sie wirklich, dass man allzu vereinfachende Aussagen über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen macht? Genau das wollen sie. Mit großem Bedauern bin ich zu diesem Schluss gelangt."

Auch ihre Texte verfolgen niemals explizit "feministische" Standpunkte (was immer das auch sein mag) oder verfahren nach den kanonisierten Erzählmustern der so genannten Frauenliteratur, die konventionelle Frauenbilder in den letzten Jahren international recht erfolgreich in postmoderne, nicht weniger konventionelle Varianten weiblicher Existenz verwandelte. Lessings zentraler, durchgängig im Kontext feministischen Erzählens angeführter Text ist der 1962 erschienene Roman "The Golden Notebook" ("Das goldene Notizbuch"). Hier konzentriert sich die Autorin auf ihre Figur Anna, eine allein erziehende Mutter, die im London der späten 1950er-Jahre lebt. Was sich in der dieser kurzen Zusammenfassung tatsächlich wie ein "Frauenroman" liest, wird bei Einbeziehung der Erzählstruktur viel komplexer. So merkt es die Autorin im Vorwort an, demzufolge es ihr Hauptanliegen war, ein Buch zu gestalten, "das seinen eigenen Kommentar abgeben würde, eine wortlose Aussage: Es sollte durch die Art, wie es gestaltet war, sprechen."

In diesem Sinne führt das "Goldene Notizbuch" dann die Unmöglichkeit eines ganzheitlichen literarischen Sprechens vor Augen: Das - wie der Titel besagt - "goldene Notizbuch" ist Teil einer Serie von Notizbüchern, die als fragmentarische Teile des Romans von der Rahmenhandlung der "ungebundenen Frauen" zusammengehalten werden. Die jeweiligen, farblich unterschiedlich gestalteten Notizbücher beziehen sich auf spezifische Erfahrungen der Protagonistin, die die Fragmente ihres Lebens nicht vereinheitlichen kann. Das schwarze Notizbuch reflektiert die Erfahrungen in einem vom Kolonialismus geprägten Afrika, das rote Notizbuch die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Partei, mit der die Protagonistin nach der Rehabilitierung Stalins bricht, das gelbe Notizbuch stellt ein Romanfragment einer komplizierten Liebesgeschichte dar und das blaue Notizbuch schließlich ist die Geschichte der Figur Anna, die den anderen Notizbüchern zugrunde liegt. Das goldene Notizbuch, an den Schluss des Romans gestellt, markiert den narrativen Versuch der in partialisierenden Fiktionalisierungen aufgesplitterten Figur endgültige Einheitlichkeit zu verleihen.

"Im zentralen, dem Goldenen Notizbuch, sind die Dinge zusammengekommen, die Unterteilungen zusammengebrochen, dort herrscht Formlosigkeit, die in Zersplitterung endet - Triumph des zweiten Themas, welches das der 'Einheit' ist."

Die ungewöhnlich komplexe Form des Romans zwingt zur weiterführenden Reflexion und verhindert vor allem autobiografische und feministische Kurzschlüsse. Der Roman demontiert lediglich den Mythos einer "objektiven" Erlebnis- und Erzählinstanz, der in der Regel lediglich männlichen Figuren zugesprochen, mehr als vorschnell von männlichen Schriftstellern reklamiert und damit zur kulturell intransparent gebliebenen Verwechslung von 'männlich' und 'objektiv' beitrug. Demgegenüber postuliert Doris Lessing eine weibliche Figur, deren Lebenswelt von den einschneidenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, des Kolonialismus, des Kriegs und des Kommunismus geprägt ist. Angesichts der Komplexität ihrer Erfahrungen ist die Figur nicht mehr in der Lage, die Fragmente in ein sinnvolles Ganzes zusammenzufügen.

Eine Auseinandersetzung mit dem gleichen Themenspektrum bietet Lessings Romanpentalogie "Kinder der Gewalt" (1952-69), die textuelle Aufarbeitung der Jugend in Rhodesien liefert ihre Autobiografie "Unter der Haut". Auch hier sollten autobiografische Erfahrung und literarische Fiktion, wie eng auch sie scheinbar zusammenliegen, nicht verwechselt werden.

Im Gegensatz zum "Goldenen Notizbuch" versucht die Pentalogie in Form des Bildungsromans den Lebensweg der jungen, in Rhodesien aufgewachsenen Frau mit dem aussagekräftigen Namen Martha Quest zu imaginieren, die nach ihrer in Afrika verbrachten Jugend, politischen Aktivitäten in kommunistischen Gruppierungen und einer gescheiterten Ehe nach London flieht, um hier ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ähnlich wie Anna im "Notizbuch" führt auch Martha Quests Identitätssuche die Figur an die Grenzen der psychischen Gesundheit. Der letzte Band "Die viertorige Stadt" veräußerlicht den innerlichen Zusammenbruch der Figur in der Fiktion eines die Welt zerstörenden Nuklearkriegs.

Doris Lessing lässt sich zweifelsohne in die englische Romantradition einreihen. Insbesondere der Roman des 19. Jahrhunderts, an dessen Entwicklung ungewöhnlich viele Schriftstellerinnen beteiligt waren, vollzieht eine Wendung zur Fragmentarisierung der Figuren und eine Abkehr von der integrierenden Darstellungskompetenz der Sprache. Dieser Umstand wird etwa in George Eliots Roman "Middlemarch" besonders evident, dessen Figuren am Schluss angesichts der fehlenden medialen Kompetenz von Sprache sich auf körperliches Ausagieren ihrer Gefühle zurückziehen. Verstanden als poetologischer Kommentar auf die Form des Romans zeigt sich schon bei Eliot die Inkompetenz der literarischen Form, die Gesellschaft als Ganzes darzustellen. Für Lessing ergibt sich als Konsequenz aus dem Versagen der Sprache die komplette Fragmentarisierung der Lebenserfahrung wie auch die Flucht in innere Fantasiewelten.

Bezeichnenderweise beschreiten viele von Lessings Romanen nach dem "Goldenen Notizbuch" den Weg in das Innere ihrer Figuren oder in mythische Zeiträume. "Anweisung für einen Abstieg in die Hölle" beleuchtet die Psyche einer Figur wie auch deren Scheitern, die Fiktion einer psychischen Integrität zu erleben. Die Pentalogie "Canopus in Argos Archive" ist eine Form der Science Fiction, in der anthropologische Grundlagen einer Gesellschaft ausgelotet werden. Als eine Überprüfung dieser anthropologischen Voraussetzungen fungiert auch der letzte Roman, "Die Kluft" (2007), der auf den mythischen Urbeginn der menschlichen Gesellschaft zurückblickt und ein Volk von Frauen vorfindet, das, vom Wind befruchtet, nur Mädchen gebiert. In Unkenntnis der eigenen Biologie sind diese Frauen schockiert, als der erste kleine Junge geboren wird und diese Kette von Geburten männlicher Säuglinge nicht abreißen will. Die ersten männlichen Kinder, von den Frauen als "Ungeheuer" diffamiert und als Ausrutscher der Natur verstanden, werden kurzerhand ins Wasser geworfen.

Als die Kette der scheinbaren ,Missgeburten' nicht abreißt, überlassen die Frauen ihre männlichen Kinder den Adlern, welche die Säuglinge in ein sicheres Tal transportieren. Diese, von freundlichen Hirschkühen gesäugt, bilden so die erste Männergesellschaft der Menschheitsgeschichte. Im Laufe ihrer Entwicklung treffen Frauen- und Männergesellschaft aufeinander, ihre Mitglieder nähern sich aneinander an und Differenzen geschlechtlich konnotierter Erfahrung entstehen. Lessing schildert geschlechtliche Identität als Natur und bezieht die sozialen Verhaltensmuster ihrer Gruppen auf diese vorgebliche Natur. Die Frauen liegen faul auf den Klippen am Meer, die Männer leben ihren Eroberungsdrang aus, erkunden fremde Küsten, kehren ramponiert zu den Frauen zurück und erholen sich dank deren emotionaler Zuwendung.

Wie ist dieser Text vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Präsenz feministischer und gendertheoretischer Diskurse zu verstehen? Einen Aufschluss über mögliche sinnstiftende Rückschlüsse gibt wieder die Form, welche die parabelhafte Erzählung an Komplexität bereichert. Die Erzählperspektive ist die eines alternden römischen Senators, der mündliche wie schriftliche Quellen anführt, aus denen er mühsam die Geschichte der ersten Geschlechterdifferenzierung zu rekonstruieren sucht. Somit transformiert sich das Thema des Romans in eine Überprüfung ursprünglicher Mythen und der Qualität kultureller Gedächtnisse. In diesem Sinne kennzeichnet der Roman die konstruierte Geschlechtszuschreibung als Funktion des historischen Zugriffs: Überliefert werden lediglich unvollkommene Fragmente, die im Vorgang der Geschichtsschreibung ihren definitorischen Stellenwert erhalten. Demnach ist es in Lessings Version ein alternder Römer zu Beginn des ersten Jahrtausends, der die Fragmente einer mythischen Gesellschaft interpretierend bewertet und im Sinne der hierarchischen Geschlechterordnung der römischen Gesellschaft interpretiert. Doris Lessings Roman ist somit eine Absage an die Wirksamkeit mythischer Ursprünge und Analyse der ideologischen Absicht von Ursprungsmythen.


Titelbild

Doris Lessing: Das goldene Notizbuch. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Iris Wagner.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
847 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455400595

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Titelbild

Doris Lessing: Die Kluft. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Christ.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
239 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783455400755

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Titelbild

Doris Lessing: Unter der Haut. Autobiografie 1919-1949.
Übersetzt aus dem Englischen von Karen Nölle-Fischer.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
592 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455400601

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