Geschichte der Gelehrsamkeit

Ein Sammelband untersucht die Neuordnung des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert

Von Gerhild Scholz WilliamsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhild Scholz Williams

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband, so die Herausgeber, soll den modernen Literatur- und Sozialwissenschaftlern das literarhistorische Phänomen und Zeugnis aufklärerischer Sammel- und Ordnungsleidenschaft, die "Historia literaria" des 18. Jahrhunderts, näherbringen. Als Wissensspeicher sollte diese "Historia" das ganze bisherige Wissen neu ordnen und den Gelehrten, aber auch den Schülern und Studenten zur Arbeit bereitstellen. Die Fragen nach dem Charakter, dem Nutzen, der Produktion und der Rezeption solch einer "Historia" wurden in vielen zeitgenössischen Traktaten diskutiert, können hier jedoch auf das Grundsätzliche reduziert werden.

Die "Historia" sollte nützen und erfreuen; sie sollte Vorurteile bekämpfen und den Verstand verbessern. Dazu macht ihr enzyklopädischer Charakter sie zum Informationsmedium, das über den Prozess des Wissenszuwachses berichtet und so denselben den Gelehrten möglichst vorurteilslos vor- und zur Verfügung stellt. Der Vorsatz der Herausgeber, die Geschichte dieser Geschichte zu schreiben, wird zur rechten Zeit erfüllt, da wir als Bürger des 21. Jahrhunderts, computergewohnt und listenversiert, die Anstrengungen der Gelehrten, die diese Kompendia produzierten, uns kaum noch vorzustellen, viel weniger zu würdigen in der Lage sind.

Der Sammelband will diesem nun abhelfen. Um es vorauszuschicken: Er ist seiner Aufgabe bestens gewachsen. Die elf Beiträger (zuzüglich Vor- und Nachwort der Herausgeber) beschreiben die gelehrten Bemühungen um diese Vollständigkeit anstrebende Geschichte der Gelehrsamkeit mit großer Sorgfalt, bewundernswürdigem Detailwissen und mit stilistischer Klarheit, die im Großen und Ganzen frei bleibt von verwirrendem Wissenschaftsjargon. Umrahmt durch eine Einleitung von Friedrich Vollhardt und Frank Grunert und einen Epilog von Ulrich Schneider, sind die Beiträge in drei vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitende Themenkreise aufgeteilt: "Konzepte und Programm" (Sydikus, Scattola, Grunert, Zedelmaier); "Praktiken und Ausführungen" (Jaumann, Gierl, Lehmann-Brauns, Marti); und "Alternativen und sachliche Nachbarschaften" (Werle, Häfner, Naschert). Zugrunde liegt dem "Aufklärungsgenre" der "Historia literaria" die Vorstellung einer vollständigen Geschichte der Gelehrsamkeit, die Überzeugung, dass so eine Geschichte dem Schüler das Lernen, dem Studenten das Studium und dem Gelehrten die Vertiefung schon vorhandenen Wissens erleichtert. Zurückgehend auf Francis Bacons Schrift von 1605 "Of the proficience and advancement of learning" sollte eine noch zu schreibende Geschichte der Gelehrsamkeit die Leistungen aller Völker zu allen Zeiten, einschließlich aller Disziplinen, Kontroversen und Gelehrsamkeitsinstitutionen klar und übersichtlich darstellen.

Mit erstaunlicher Weitsicht haben schon Bacon und viele der in den Essays behandelten Gelehrten erkannt, dass es bei so einem Werk nicht nur um Gelehrsamkeit, das heißt um die wissenschaftliche Erklärunge und um Erkenntnis ging, sondern auch um gesellschaftliche und politische Entwicklungen - und, wie könnte es anders sein, um eine angestrebte religiöse Toleranz. Als Lehrinstrument und Speicher praktischen Wissens tritt die "Historia literaria" außerdem in den Dialog mit gelehrten Journalen und Zeitungen, wobei sie im gegenseitigen Austausch Informationen vertiefen und erweitern. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit solch eine "Historia literaria" auf den Universalgeschichten des 16. bis 18. Jahrhunderts aufbaut, und wie sie sich von diesen unterscheidet. Damit einher geht auch die Frage nach den Veränderungen im Bereich der "literae" und nach deren sich wandelnden Erkenntniswert. Erst die vollständige Aufarbeitung aller Wissensbestände macht deren kritische Beurteilung möglich und führt auf dem Weg über die "Bibliotheca universalis" zur Verbindung von Geschichte und Kritik, die die Zukunft der Literaturkritik bestimmen sollte.

Das Selbstverständnis der Autoren dieser Geschichte der Gelehrsamkeit ist jedoch nicht nur erzieherisch und historisch geprägt; es sieht sich einer klaren moralischen und, wenn man die konfessionellen Versionen einer solchen "Historia" berücksichtigt, religiösen Mission verpflichtet. Der Mensch lebt in einer Welt, in der Gutes und Böses nahe beeinander existieren. Ohne klare Anweisungen, wie unter Meinungen und Vorurteilen die Wahrheit zu erkennen ist, bleibt er orientierungslos.

Das heißt, die "Historia" versteht sich als der Weg, der über die Gelehrtheit zur Klugheit und dann zur Weisheit führt, und zwar nicht nur durch korrekte Informationen, unermüdlich gesammelt und geordnet, sondern auch durch das Lesen von guten Büchern. Die Diskussion über Nutzen und Unnutzen der Bücher überhaupt bleibt deshalb auch ein Dauerthema der Gelehrtendispute. Dass auch schlechte Bücher möglicherweise wegen ihrer Beispielhaftigkeit des zu Vermeidenden eine Erziehungsrolle spielen können, wird hier und da am Rande diskutiert. Eine "Historia", die nur auflistet ohne Auswahl zu treffen, die sich weigert, der moralischen und ethischen Erziehung des Menschen Hilfestellung zu leisten, wird als wertlos verurteilt. In den Händen des Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz wird diese "Historia" zu einer universalen Wissenschafts- und Forschungskunde, eine kritische Bücherkunde, die alles Wissen verarbeitet und dem Leser arbeitsgerecht darbietet. Die Ordnung der Produktion ist damit angegeben. Lebens- und historische Umstände der Autoren, die Erkenntnis dessen, was an ihrem Werk neu ist, und, zum Schluss, wie sich das Werk eines jeden Autors zu dem seiner Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfahren verhält, müssen kritisch ausgeleuchtet werden. Kurzum, die "Historia literaria" ist nicht mehr nur ein Wegweiser durch die Gelehrsamkeit, sondern ein kritisches Instrumentarium, dass der lesenden Allgemeinheit zur Instruktion, Erkenntnis und damit zur politischen und moralischen Besserung dienen soll. Der vorliegende Band macht uns diesen Imperativ eindringlich und fachkundlich klar.


Titelbild

Frank Grunert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Zur Ordnung des Wissens im 17. Und 18. Jahrhundert.
Akademie Verlag, Berlin 2007.
278 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783050042848

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