Fallobst

Astrid Deuber-Mankowsky geht den Praktiken der Illusion von Kant bis Haraway nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man so disparate DenkerInnen wie Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Hermann Cohen, Walter Benjamin und Donna J. Haraway unter einem gemeinsamen Prinzip zusammenführen? Astrid Deuber-Mankowsky ist sich zwar durchaus im Klaren darüber, dass etwa Nietzsches Denken in eine "der kantischen diametral entgegengesetzten Richtung" geht. Gleichwohl unternimmt sie den Versuch. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Es gelingt ihr. Das einheitsstiftende Moment ihrer Arbeit bilden die als "bewusste Weisen, bessere Darstellungen der Welt zu schaffen", definierten "Praktiken der Illusion", die auch den Titel der vorliegenden Arbeit stiften. Unter dem Topos versteht die Autorin eine "verletzliche und ungesicherte Form der Kritik", "die dem Nichtwissen Rechnung trägt" und somit für "scheinbar ephemere Phänomene" offen ist. Als Beispiele derartiger Phänomene nennt sie nicht zufällig den Schein, die Wünsche, den Schmerz, die Melancholie, das Geschlecht, die Medien, das Spiel, und das Scheitern.

Unterschiedliche Ausprägungen dieser ungesicherten Kritikform macht sie nun bei allen genannten DenkerInnen aus, in Kants "Denken des Scheins und der Illusion" sowohl wie in Nietzsches "Konzept der Philosophie als Kunst der Transfiguration", in Hermann Cohens auf Kant zurückgehender Erkenntniskritik, in Walter Benjamins "Kritik der auratischen Wahrnehmung" und schließlich in Donna J. Haraways "materiell-semiotischen Praktiken". Für sie alle sei "die Frage nach der 'Glaubwürdigkeit des Anscheins' produktiver als die Frage nach der 'Wahrheit der Wirklichkeit'". Hinzu trete eine zweite Gemeinsamkeit: Zur Lösung der epistemologischen Herausforderung, vor die sich die DenkerInnen jeweils gestellt sahen und im Falle Haraways noch immer sehen, eigne sich die "Medialität des Denkens" besser als die "Suche nach den 'schöpferischen Grundlagen des Lebens selbst'". Die allen gemeine "Aufmerksamkeit gegenüber dem Medialen" verbinde "die konstitutive Bedeutung des Wunsches für das Wissen- und Kommunizierenwollen" mit der "konstitutiven Bedeutung, welche Medien für das Denken und die hier vorgestellten Theorien der Erkenntnis und Wahrnehmung spielen". Bei Kant seien dies die optische Illusion und die Zentralperspektive gewesen, bei Nietzsche das Schreiben als "Gegenpol zum Messen", bei Cohen die "'Raum-Gebilde' und 'Zahl-Gebilde' der Geometrie", bei Benjamin die Reproduktionstechnologien, bei Haraway schließlich die Informationstechnologie und die kybernetischen Systeme.

Deuber-Mankowskys gliedert ihre Arbeit in drei Teile. Der erste gilt Kant, namentlich dessen bislang wenig untersuchter "Opponenten-Rede gegen Johann Gottlieb Kreutzfeld". In ihm stellt sie "Kants Projekt, die Grenzen der Vernunft auszuloten", als "Bestandteil einer philosophischen Praktik der Illusion" vor, indem sie sein "Konzept der transzendentalen Idee der Freiheit" als die einer "notwendigen Illusion und eines unaufhebbaren, beständigen Scheins" rekonstruiert. In den beiden folgenden Teilen geht die Autorin "Spuren" der in Kants "Neubestimmung der Metaphysik aufgefundenen Praktiken der Illusion im Denken" in den Werken der anderen DenkerInnen nach. So widmet sie sich im zweiten Teil "Nietzsches Tanz um die Philosophie", Hermann Cohens "Sprachformen der Apokalypse" und dessen "Behandlung des Empfindungsproblems" sowie Benjamins "Kritik des Scheins". Im dritten, "Nachspiel" genannten Teil geht sie Haraways "Fadenspielen" mit Cyborg-Mythos und Cyborg-Politik sowie mit optischen Täuschungen und Erkenntnissituierung nach.

Den drei Teilen vorgeschaltet ist ein kleiner, fast unscheinbarer Abschnitt, der es aber in sich hat. Auf nicht mal zehn Seiten verteidigt die Autorin Hermann Cohen erfolgreich gegen die Abstraktionsvorwürfe seines weit bekannteren Nachfolgers auf dem Marburger Lehrstuhl Martin Heidegger. Zu monieren ist allerdings, dass sie die Begriffe Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie in diesem Abschnitt synonym benutzt, während Cohen in seinem Buch "Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte" unter der Überschrift "Bedenken gegen den Titel Erkenntnistheorie" ausdrücklich begründet, warum er den Terminus Erkenntniskritik vorzieht.

Doch davon abgesehen erweisen sich die im Laufe der Untersuchung eher beiläufig abfallenden Früchte der Erkenntnis mitunter als die reifsten und besten der Arbeit. So stellt die Autorin einige sehr kluge Überlegungen zu Michel Foucaults Fehllektüre von Kants "Anthropologie" an. Zwar stimmt sie mit dem Marburger Kantforscher Reinhard Brandt darin überein, dass Kants Schrift "nicht als das 'systematisch geforderte Komplementärstück der Moral' angesehen werden kann". Gleichwohl sieht die Autorin in ihr jedoch das "Innenfutter" von dessen praktischer Philosophie. Dies werde insbesondere deutlich, wenn man den Aspekt des Geschlechterverhältnisses und des Kultur/Natur-Gegensatzes näher betrachtet. Die "Selbstdifferenzierung der Natur in den Gegensatz Natur/Kultur", so fasst Deuber-Mankowsky Kants "Genealogie der Kultur" zusammen, entspringe der Dynamik, "welche die Natur ihrerseits durch die Differenzierung der menschlichen Gattung in zwei unterschiedliche Geschlechter freigesetzt hat". Dabei fungiere das weibliche Geschlecht gleich auf doppelte Weise als "Medium". Zum einen initialisiere es im männlichen Geschlecht das "idealische Gefühl" und gebe somit den "Anstoß zur Entstehung der Kultur". Zum zweiten ermögliche es diesem "den Sprung zur Überwindung der vom Gegensatz Natur/Kultur umschlossenen Grenze". Somit leiste das weibliche Geschlecht "durch den verordneten Verzicht auf die Ausbildung einer Persönlichkeit im moralischen Sinne" ebenfalls einen Beitrag zur "Menschwerdung der Gattung im Sinne der Setzung des Menschen als Selbstzweck" - wenn auch nur indirekt als Medium, durch welches das männliche Geschlecht agiert. Dann aber, so wäre hinzuzufügen, existierte die (weibliche) Hälfte der Menschheit nur als Mittel zur Perfektionierung des (Mann-)Menschen, nicht aber als Selbstzweck.

Bleibt die Arbeit im Ganzen auch überzeugend und die unter dem Topos "Praktikabilität der Illusion" zusammengefasste Gemeinsamkeit der doch so unterschiedlichen DenkerInnen ebenso nachvollziehbar wie dessen erkenntnisstiftendes Primat gegenüber einer Suche nach der 'wahren Wirklichkeit', so fallen doch einige kleinere Mängel oft eher formaler Art ins Auge. Dass Kant weder in seiner Anthropologie- noch einer seiner anderen Vorlesungen je "Zuhörerinnen und Zuhörer" hatte, wie Deuber-Mankowsky schreibt, sondern diese vielmehr samt und sonders männlichen Geschlechts waren, ist sicherlich eine Quisquilie. Ärgerlicher ist jedoch die für eine Habilitationsschrift wiederholt recht mangelhafte Zitierweise. Aus einem von Kants "Texte[n]" zitiert sie zu Beginn ihrer Arbeit die Wendung "Zweifel des Aufschubs". Nur findet sich dieser Topos nicht in einem von seinen "Texte[n]", sondern es handelt sich vielmehr um eine handschriftliche Anmerkung aus Kants durchschossenem Handexemplar seiner Schrift "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen". Begünstigt wurde Deuber-Mankowskys Irrtum durch den Umstand, dass sie an dieser Stelle nach der Akademie-Ausgabe zitiert, in welcher Kants Notizen und Marginalien unter dem irreführenden Titel "Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" firmieren. Das sind sie jedoch mitnichten. Denn es sind keineswegs (ausschließlich) Bemerkungen zu dem Buch, sondern Bemerkungen in dem Buch. Kant hat darin allerlei notiert - Gedanken, Reflexionen und anderes -, ohne dass es sich immer notwendig auf den Text des Buches, also auf die "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" bezieht. Entsprechend steht deren Edition durch Marie Rischmüller unter dem Titel "Bemerkungen in den 'Beobachtungen des Gefühls des Schönen und Erhabenen'". Aufgrund der im Unterschied zur Akademie-Ausgabe zudem korrekten Transkription der Handschrift gilt Rischmüllers Edition seit ihrem Erscheinen 1991 in der Kantforschung als einzig zitierfähiger Druck der Bemerkungen. Als geschlossenen Text lässt aber selbst die mit Transkriptions- und anderen Fehlern geradezu gespickte Edition in der Akademie-Ausgabe Kants Bemerkungen nicht erscheinen.

Noch ein zweites Beispiel für die formalen Schwächen des vorliegenden Buches. Es ist ebenfalls den ersten Seiten entnommen und sei hier etwas ausführlicher zitiert: "So gehört es nach Kant zur Natur der Vernunft, dass sie durch Fragen bedrängt wird, deren Beantwortung ihr Vermögen zugleich übersteigt. Die Beschäftigung mit Fragen, die aufs Unbedingte zielen, kann ihr weder zum Vorwurf gemacht noch abgewöhnt werden. In der Folge stellt er dem defensiven, 'negativen Nutzen' von Humes Verabschiedung der Metaphysik den 'positiven Schaden' gegenüber, der dann entstehe, 'wenn der Vernunft die wichtigsten Aussichten genommen werden, nach denen allein sie den Willen das höchste Ziel aller seiner Bestrebungen ausstrecken kann." schreibt Deuber-Mankowsky und verweist dabei auf eine Fußnote in Kants "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", aus der die Kant-Zitate im Zitat entnommen sind (übrigens nun ohne Not nicht aus der Akademie-Ausgabe, sondern aus einer der zahlreichen Weischedel-Ausgaben). Es entsteht also der Eindruck, der gesamte Gedankengang entstamme diesem Werk. Tatsächlich aber handelt es sich bei dem Beginn der hier zitierten Passage um die fast wörtliche Übernahme des Anfangs der Vorrede zur ersten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft", die wie folgt beginnt: "Die menschliche Vernunft hat aber das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen bedrängt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft."

Ganz ohne genaueren Nachweis bleibt - ebenfalls auf den ersten Seiten des vorliegenden Buches - das Zitat "freihandelndes Wesen". Man erfährt nur, es sei der "Einleitung" von Kants "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" entnommen. Die hat aber gar keine Einleitung, sondern nur eine "Vorrede". Und auch später muss man immer wieder mal eine genaue Quellen-Angabe vermissen. So ist etwa Platons Dialog "Der Staat" doch umfangreich genug, um sich zu wünschen, die Stelle angegeben zu bekommen, an der er feststellt, "dass Maler als Nachahmer es vermöchten, Kinder und Dumme zu täuschen". Man könnte sich längeres und zeitraubendes Suchen ersparen. Schließlich sticht noch ein sinnentstellender Tippfehler in die Augen: Vorländer spricht in seinem Buch "Immanuel Kant - Der Mann und das Werk" nicht über die "reichliche Scheidung zwischen Poesie und Logik", sondern über deren "reinliche Scheidung".

Wem derlei Kritik allzu formal erscheint, der wird es vermutlich auch unangebracht finden, dass abschließend auf den oft unregelmäßig Satz des Buches hingewiesen werden soll, der den Lesefluss immer wieder stört, wenn nicht gar unterbricht.


Titelbild

Astrid Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2005.
352 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3930916711
ISBN-13: 9783930916719

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