Zerreissproben - Christine Kanz hat einen Sammelband zu Familie und Geschlecht in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Familie und Geschlecht sind untrennbar miteinander verknüpft. In Mutter-Vater-Tochter-Sohn- und Geschwister-Beziehungen werden die Geschlechterrollen vorgeführt, gelernt, verinnerlicht und ständig modifiziert. Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen familiären Strukturen und der Ausbildung, Verfestigung und alltäglichen Verankerung von Geschlechterdiskursen sind darum für das Verständnis von Geschlechterordnungen von großer Relevanz. Literatur ist an der permanenten kulturellen Konstruktion und Modellierung der Geschlechterrollen und familiären Beziehungsmuster in nicht unerheblichem Maße beteiligt. Dabei ist im Vergleich historischer und literarischer Diskurse mit Ungleichzeitigkeiten und Diskrepanzen zu rechnen. Literatur kann zwar die komplexen Familienkonstrukte und Geschlechterordnungen, die den Beteiligten zur zweiten Natur geworden sind, modellhaft abbilden und bestätigen und sie damit fixieren. Sie stellt sie aber auch in Frage, reflektiert sie, kann andere, bisher so nicht existente Familienmodelle imaginieren und neue Geschlechter-Entwürfe durchspielen." (Aus dem Klappentext)

In einem von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Christine Kanz herausgegebenen Sammelband mit englischen und deutschen Beiträgen fragen Literaturwissenschaftler/innen aus den USA, Deutschland und der Schweiz anhand von close readings bekannter und weniger bekannter literarischer Texte, wie die vielfältigen Verknüpfungen von Familie und Geschlecht in der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts inszeniert werden, welche kulturellen Energien die in den Texten präsentierten Vorstellungen, Bilder und Modelle von Familie und Geschlecht angeregt haben und welche Funktionen die imaginierten Interrelationen einnehmen.

Unter dem Stichwort "Familie als Kriegsschauplatz" untersucht Linda Simonis die "Störung intimer Kommunikationsverhältnisse" in Kleists "Die Familie Schroffenstein" und in Mozarts "Mitridate", Annette Simonis erörtert Familienkonflikte und Familientragödien in historischen Novellen von Conrad Ferdinand Meyer. Gesine Lenore Schiewer widmet sich den sprachlichen Bedingungen der Darstellung sexueller Gewalt in Arno Holz' Erzählung "Die kleine Emmi". Die beiden Beiträge des zweiten Teils gehen dem Zusammenhang zwischen Arbeit und familiärem (Un-)Glück nach. W. Daniel Wilson beleuchtet Arbeit, Familie und die Suche der titelstiftenden Figur in Goethes "Werther". Birgit A. Jensen analysiert Erfahrungen von Familie und Gender in Autobiografien von Frauen aus der Arbeiterklasse des späten 19. Jahrhunderts. Im nächsten Großkapitel geht Waltraud Maihofer anhand eines Romans und zweier Sagen von Benedikte Naubert der Inkompatibilität von Überempfindlichkeit und Familie nach; und Yahya Elsaghe analysiert die komplexen Verknüpfungen von Familie und Geschlecht in Thomas Manns frühesten Erzählungen, die vorrangig um "unmännliche" Helden kreisen. Unter der Rubrik "'Vernünftige Lieben' - 'Häusliche Korsette'" wenden sich Helga Schutte Watt und Laura Deiulio "Sophie von La Roche's Protagonists Between Desire and Destiny" und der "Gendered Marriage in Esther Gad's Novella 'Das allegorische Gemälde'" zu. Der abschließende Abschnitt gilt den "klugen Müttern". Simone Haeberli bestimmt den Stellenwert der Mutterschaft und des Kindes in den autobiografischen Schriften Regula Engel-Eglis. Im letzten Beitrag wirft die Herausgeberin unter dem Titel "Mutterschaft statt Bildung?" einen kritischen Blick auf die Mutterschaftsidealisierung um 1900.

Wie die Aufsätze unter anderem zeigen, sind die komplexen Verbindungen von Familienkonzepten und Geschlechterkonstruktionen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts prekär. Sie führen zu Zerreißproben im Familienalltag und können sogar den Fortbestand der gesamten 'Familienbande' in Frage stellen. ,Über einen Kamm scheren' lassen sie sich jedoch nicht; sie variieren von Autor/in zu Autor/in.

C.K.

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Titelbild

Christine Kanz (Hg.): Zerreissproben / Double bind. Familie und Geschlecht in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts.
eFeF Verlag, Wettingen 2007.
280 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783905561722

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